Nach Vorwürfen Grünen-Politiker Gelbhaar will es nochmal wissen. Hat er eine Chance?

Stefan Gelbhaar
Grünen-Politiker Stefan Gelbhaar: Am Samstag entscheidet sein Kreisverband in Pankow, ob er Direktkandidat zur Berliner Abgeordnetenhauswahl wird
© Bernd Elmenthaler / Imago Images
Nach Vorwürfen übergriffigen Verhaltens gegenüber Frauen schien Stefan Gelbhaar politisch erledigt zu sein. Nun will er bei der Berlin-Wahl kandidieren. Manche Grüne graust es.

Es ist ein eigentümlicher Weg zurück in die Öffentlichkeit, für den sich Stefan Gelbhaar entschied. Mitte September wurde im "Focus" ein Gastbeitrag des Grünen-Politikers veröffentlicht, in dem er über eine etwas andere Art der Verhandlungslösung des Krieges in der Ukraine nachdachte. 

Man könnte fragen, warum ein Mann, der in seiner politischen Laufbahn vornehmlich zur Verkehrspolitik arbeitete, sich an die Leserinnen und Leser wendet mit Analysen zu Krieg und Frieden im Osten Europas. Aber sei’s drum. Der Inhalt ist in diesem Fall – ausnahmsweise – zweitrangig. Das eigentliche Zeichen war: Ich bin da. Und ich habe noch was vor. An so manche Grüne lautete die Botschaft vielleicht auch: So leicht werdet ihr mich nicht los. 

Für die Grünen ist der Fall Stefan Gelbhaar heikel

Kurze Zeit später gab Gelbhaar, seit 25 Jahren Mitglied der Grünen, bekannt, dass er ins Berliner Abgeordnetenhaus einziehen will, im September 2026 finden die Wahlen statt. In den letzten Monaten habe er viele Gespräche geführt, dabei "Zuspruch und Ermutigung, aber auch Zweifel erlebt", schreibt er in einem Brief, mit dem er sich um die Direktkandidatur im Wahlkreis Prenzlauer Berg-West bewirbt. Am Samstag entscheidet sein Kreisverband in Pankow, ob sie mit ihm als Kandidaten in den Wahlkampf ziehen wollen – oder nicht.

Hat er eine Chance? Nach allem, was war? 

Noch vor wenigen Monaten schien Gelbhaar, ehemaliger Berliner Landesvorsitzender, ehemaliger Bundestagsabgeordneter, politisch abgeschrieben zu sein. Nun spricht der 49-Jährige mit zurückhaltender Stimme ins Telefon, wägt dabei offenkundig jedes Wort. "Es ist für mich nicht der leichte Weg", sagt er, "die Vorgänge der vergangenen Monate haben Spuren hinterlassen." Er habe sich trotzdem dazu entschlossen, sich zu bewerben. "Weil ich gerne Politik mache, ich in der Vergangenheit Erfolge in der Verkehrspolitik wie das Deutschlandticket erarbeiten konnte. Weil Stimmen aus dem Osten so rar sind bei den Bündnisgrünen." Er fügt hinzu: "Und: weil Intrigen am Ende nicht erfolgreich sein sollten."

Vor der letzten Bundestagswahl wurde Gelbhaar erst parteiintern, dann öffentlich über einen Medienbericht übergriffiges Verhalten Frauen gegenüber vorgeworfen. Allerdings fielen die schwersten Vorwürfe, die Beschuldigungen, die als sexualisierte Gewalt gegolten hätten, in sich zusammen, die angeblichen Belege dafür waren offenkundig gefälscht worden. 

Im Zuge der Aufregung verzichtete Gelbhaar auf eine Kandidatur zur Bundestagswahl oder wurde dazu gedrängt – dazu gehen die Darstellungen auseinander. Der Bundesvorstand gab bei renommierten grünen Rechtsexperten eine Untersuchung in Auftrag, die der Partei schwere Fehler attestierte: Der gesamte Vorgang habe für Gelbhaar ein "jähes Ende seiner politischen Karriere als Bundestagsabgeordneter" bedeutet, bevor über die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen befunden worden wäre oder er Gelegenheit gehabt hätte, sich erklären und verteidigen zu können. 

Gleichzeitig hielt der Bericht auch fest, dass es im Berliner Landesverband "offenkundig etliche Frauen" gebe, die "sich vom möglicherweise übergriffigen, aber nicht strafrechtlichen Verhalten" Gelbhaars tangiert fühlten. Auch die "Süddeutsche Zeitung" darf, nachdem Gelbhaar gerichtlich gegen einen Artikel vorgegangen war, weiterhin schreiben, dass die geschilderten Erfahrungen der Frauen Fragen berührten nach "ungleicher Macht, Status und Einfluss" und, "sofern sie zutreffen, ein Verhalten, das heute in vielen Unternehmen wohl die Compliance-Abteilung beschäftigen dürfte: Junge weibliche Grüne anflirten, ihnen Komplimente machen, bis manche sich bedrängt fühlen".

Für die Grünen ist der Fall schwierig, weil zwei Prinzipien, die die Partei besonders hochhalten will, aufeinanderprallen: das Einstehen für den Rechtsstaat, dessen wichtiger Pfeiler die Unschuldsvermutung ist. Und das Selbstverständnis als feministische Partei, die sich auch aus der Erfahrung der MeToo-Debatten der vergangenen Jahre vorgenommen hat, Frauen ernst zu nehmen, die von grenzüberschreitenden Männern – oft in Machtpositionen – berichten.

Und jetzt?

Bis in die obersten Reihen ist den Grünen der gesamte Fall bis heute einfach nur unangenehm – auch weil es keine einfachen Antworten gibt. Einige, auch Spitzengrüne, hätten es am liebsten gesehen, Gelbhaar hätte sich zumindest für einige Zeit zurückgenommen, manche Parteifreunde haben ihm das nahegelegt. Im Unterstützerkreis von Gelbhaar hingegen sieht man es so: Ein bis dahin erfolgreicher Politiker der Grünen wurde zu Unrecht um seine Bundestagskandidatur gebracht, und die Aufstellung für die Berliner Wahl stehe nun einmal jetzt an und nicht erst in einigen Jahren.

Gelbhaar wisse, "wann er gewinnen kann, und wann nicht"

In dieser schwierigen Gemengelage liegt es nun an den einfachen Parteimitgliedern in Berlin-Pankow, wem sie am Samstag ihre Stimme geben wollen. Gelbhaar muss sich in dem Wahlkreis gegen die Gegenkandidatin Sunčica Klaas behaupten. Die Wissenschaftlerin gilt als beliebt, ist seit Kurzem auch im Kreisvorstand. Dass sie eine Frau mit Migrationshintergrund ist, ist bei den Grünen traditionell nicht ganz unwichtig. 

Trotzdem werden Gelbhaar Chancen ausgerechnet, selbst von denen, die seine Kandidatur für einen Fehler halten. Der 49-Jährige wisse eigentlich ziemlich genau, "wann er gewinnen kann, und wann nicht", heißt es immer wieder, er sei ein "strategisch kluger Mann". Es hängt davon ab, wie viele der Pankower Grünen-Mitglieder am Samstag zu der Versammlung erscheinen werden, und wie sie auf die ganze Sache blicken.

Gelbhaar beteuert, er habe sich in den vergangenen Monaten intensiv mit seinem Verhalten auseinandergesetzt. "Ich habe viel nachgedacht darüber, wo sich andere in meiner Gegenwart unwohl gefühlt haben könnten, wo es Missverständnisse und Fehler gegeben hat. Meine Kommunikation ist nun deutlich klarer", sagt er dem stern.

Andere aber nehmen ihm genau nicht ab, dass er das ihm vorgeworfene grenzüberschreitende Verhalten ernsthaft reflektiert habe. Übel aufgestoßen ist einigen, dass der ausgebildete Rechtsanwalt nicht davor zurückschreckte, gerichtlich gegen die Grüne Klara Schedlich vorzugehen, um ihr entsprechende Aussagen zu verbieten. Prominente Grüne, die Berliner Landesvorsitzende Nina Stahr, die ehemalige Bundesfamilienministerin Lisa Paus und die ehemalige Berliner Bürgermeisterin Bettina Jarasch, begleiteten die junge Parteifreundin damals demonstrativ vor Gericht. Die Richterinnen und Richter gaben Gelbhaar recht. Einem Bericht des "Tagesspiegel" zufolge soll Schedlich dagegen nun Berufung eingelegt haben.

Klara Schedlich (vorn, r.), Abgeordnete im Abgeordnetenhaus Berlin, erscheint vor Gericht, gemeinsam mit ihrer Anwältin (l.), Bettina Jarasch (Mitte, r.), Lisa Paus (Mitte, l.) und Nina Stahr (hinten, r.)
Klara Schedlich (vorn, r.), Abgeordnete im Abgeordnetenhaus Berlin, erscheint vor Gericht, gemeinsam mit ihrer Anwältin (l.), Bettina Jarasch (Mitte, r.), Lisa Paus (Mitte, l.) und Nina Stahr (hinten, r.)
© David Hammersen / Picture Alliance

Gelbhaar selbst will seine Kandidatur nun als eine Chance begriffen wissen, auch für seine Partei: "Es ist auch die Möglichkeit, dass wir in der Partei die Geschehnisse weiter aufarbeiten und dadurch Wunden heilen können, statt das irgendwie auszusitzen", sagt er. Andere begreifen das eher als Drohung, denn als Chance.

Eines scheint einigermaßen sicher: Wird Gelbhaar am Samstag zum Kandidaten der Grünen gekürt, dürfte es im Wahlkampf vielfach eher um ihn als Person denn um seine Vorstellungen zur Verkehrspolitik für die Hauptstadt gehen. Ob die Grünen mit der vorbelasteten Personalie in einem harten Berliner Wahlkampf etwas für sich gewinnen können? Mancher Parteistratege schlägt schon jetzt verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammen.

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