Warum töten sich Menschen selbst?
Es gibt verschiedene Motivstrukturen für Suizide oder Suizidversuche. Zum Beispiel das appellative Motiv, wo der Hilfeschrei sehr deutlich wird. Es gibt den psychotischen Suizid, wenn sich jemand in einem krankhaft veränderten Weltbild verfolgt und bedroht fühlt - im Rahmen einer Schizophrenie etwa. Es gibt den Suizid aus einer tiefen Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit heraus: Es wird sich nichts mehr ändern, es gibt keine Chance mehr. Dann die Selbsttötung aus Rache: Euch zeig ich‘s, seht her, wie weit ihr mich gebracht habt. Und es gibt natürlich suizidale Handlungen, die manipulieren wollen, mit denen andere Menschen unter massiven Druck gesetzt werden.
Demnach verrät die Art des Selbstmords auch etwas über das Motiv?
Wenn jemand von seinem Partner verlassen worden ist, wird er eher eine weiche Methode wählen. Eine Methode, die überlebbar ist. Tabletten zum Beispiel. Das ist ein unbewusster Vorgang. Ich will am Leben bleiben, weil ich meinen Partner wieder haben will. Wenn der Todeswunsch tatsächlich auf die Beendigung des Lebens abzielt, wird eine harte Suizid-Methode gewählt. Erhängen, erschießen oder der Sturz von einem Hochhaus oder einer Brücke.
Nach dem Todessprung Jürgen Möllemanns wollten enge Freunde nicht glauben, dass er den Freitod gewählt hat - er sei so nicht "gestrickt" gewesen. Welche Menschen töten sich selbst?
Es gibt keine typische Persönlichkeitsstruktur, die zur Selbsttötung neigt. Es gibt Menschen, die gefährdeter sind als andere, die zu negativen Denkweisen tendieren oder zur Depression. Möllemann hat sein narzisstisches Selbstwertgefühl ausschließlich aus dem Rampenlicht gezogen, in dem er lange Zeit stand. In den letzten Monaten ist er daraus vertrieben worden. Und wenn einer, der nach dem Alles-oder-nichts-Gesetz lebt, das erfahren muss, kippt er ganz tief ins Depressive ab. Das muss er als massive Entwertung seiner Person empfunden haben.
Gibt es Warnsignale von lebensmüden Menschen, die von Angehörigen oder Freunden erkannt werden können?
Es gibt Warnsignale. Wobei die Deutung problematisch ist. Warnsignale sind grundsätzlich Äußerungen von Hoffnungslosigkeit, von depressiven Zügen: der Rückzug aus Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten, der Abbruch von Kontakten. Das war bei Möllemann der Fall.

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Hätte man ihm helfen können?
Wenn er sich in Behandlung begeben hätte, ja. Aber er hat das wohl mit sich selbst ausmachen wollen. Dazu neigen Männer. Bei Männern ist deshalb die Suizid-Rate zwei- bis dreimal höher als bei Frauen. Männer setzen nach außen weniger Zeichen. Nach unserer Hochrechnung gibt es bei 40 Prozent aller 11 000 Suizidenten pro Jahr in Deutschland im Vorfeld keine Hinweise. Wann ist der Punkt erreicht, an dem der Entschluss, sich zu töten, feststeht? Um bei Möllemann zu bleiben: Er kann die Aufhebung der Immunität als Ehrverlust empfunden haben. Gerade bei Ehrverlust kann die Entscheidung zum Suizid impulshaft kommen.
Und dann gibt es kein Zurück mehr?
Möllemann hat den Abgang eines Samurai zelebriert. Wenn ein Samurai kriminell geworden war, konnte er seine Ehre und die seiner Familie nur retten, indem er sich entleibte. Tat er das nicht, wurde er auch getötet - mit dem Unterschied, dass seine Angehörigen über Generationen ehrlos blieben. Der rituelle Selbstmord eines Samurai hat durchaus Parallelen zum inszenierten Suizid Möllemanns. Wie hoffnungslos muss so einer sein, der den Tod als letzten Ausweg sieht? Ein Stehaufmännchen funktioniert nur dann, wenn wirklich noch eine realistische Perspektive da ist. Und auch ein Stehaufmännchen brennt irgendwann einmal aus, vor allem dann, wenn es keinen Rückhalt mehr empfindet. Möllemann ist von ganz oben abgestürzt - und zwar allein. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Interview: Werner Mathes