Interview "Es tut weh, an Bedeutung zu verlieren"

Kardinal Lehmann, Vorsitzender der Bischofskonferenz, über die Vertrauenskrise der Kirche.

Herr Kardinal, nur noch elf Prozent der Deutschen vertrauen Ihrer Kirche voll und ganz. Schlimmer: Nur ein knappes Drittel ist noch an kirchlichen Reformen interessiert. Wird die Kirche zur Randgruppe?

Zweifellos ist das ein dramatisches Urteil. Aber in der Umfrage steckt ein folgenreicher Fehler: Sie trennt Werke wie Caritas und Diakonie, mit denen die Menschen offenbar recht zufrieden sind, von den Kirchen selbst. Doch das soziale Engagement gehört untrennbar zum Glauben. Bringt man Religion und soziale Erneuerung zusammen, dann funkt es.

Wollen Sie also den Willen zur gesellschaftlichen Veränderung unterstützen, der bei uns allmählich spürbar wird?

Ich glaube, beide Kirchen tun das bereits seit längerem. Im Augenblick bereiten wir zum Beispiel eine umfangreichere Stellungnahme zur Gesundheitsreform vor. Was die Umsetzung der Reformen angeht, bin ich eher misstrauisch. Reform ja, aber nicht bei mir - so denken viele.

Wenn nur 39 Prozent der Deutschen sich als religiös bezeichnen, ist es da nicht egal, was Sie zu den Reformen sagen?

So schrill will ich die Alarmglocke noch nicht läuten. Aber die Untersuchung offenbart ein riesiges Problem: die Unbeweglichkeit der Gleichgültigen. Wir können solche Menschen wiedergewinnen, aber das ist eine sehr schwere Aufgabe, die vor allem in den Gemeinden geleistet werden muss. Das Vertrauen in Seelsorger und Pfarrer ist größer als das in bloße Institutionen. Auf das Zeugnis kommt es an.

Schneidet die evangelische Kirche bei den Umfragen deshalb etwas besser ab, weil sie nicht so zentralistisch erscheint wie die Katholiken mit Papst und Vatikan?

Nein. Der Papst hat zum Beispiel mit seiner Ablehnung des Irak-Kriegs viel Zustimmung bekommen. Doch es ist schwer, solche spontanen Gefühle in den Alltag zu übertragen und die Menschen wieder dauerhaft in die Kirche einzubinden.

Ist diese Kluft nicht auch entstanden, weil Papst und Bischöfe oft nicht verstanden haben, was die Menschen bewegt?

Das mag teilweise der Fall sein. Wir sprechen aber auch Fragen an, denen man gern aus dem Weg geht. Und wir haben einen erschreckenden menschlichen Kältegrad in unserer Gesellschaft erreicht. Eine bayerische Schülerin hat mal gesagt: "Es fehlt mir nix, ich glaub auch nix."

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Wir erleben, dass sich viele junge Menschen auch abseits der Kirche engagieren. Ist denn wirklich nur Kälte, wo die Kirche nicht mehr gehört wird?

Nein, ich selber habe nie so gedacht. Im persönlichen Bereich aber, bei Ehe, Familie, Sexualität, da hat die Kirche offensichtlich nicht mehr viel zu melden. Da müssen wir zweifellos in hohem Maße Vertrauen zurückgewinnen.

Wer persönliche Probleme hat, kann zum Therapeuten gehen. Und wer die Natur schützen will, braucht die Kirche auch nicht. Wie wollen Sie sich gegen so viel Konkurrenz behaupten?

Religion ist nichts Selbstverständliches. Ich muss mich als Mensch bewusst dafür entscheiden und mein Leben danach ausrichten. Das ist heute vielleicht nur noch etwas für eine Minderheit. Und es tut weh, an Bedeutung zu verlieren. Minderheit zu werden ist schwer, Minderheit zu sein, ist es nicht mehr. Denn Minderheiten sind wendiger und können Alternativen anbieten. Auch eine Minderheitskirche kann Volkskirche sein, wenn sie die Schwächsten und Ärmsten nicht aus den Augen verliert. Die Mitgliederzahl ist dann weniger wichtig als unsere Treue zu dieser Aufgabe.

Interview: Frank Ochmann/ Jan Boris Wintzenburg