Matthias Platzeck "Am Anfang machte mich das Pfeifen wahnsinnig"

Der Ex-SPD-Chef meldet sich zurück: Matthias Platzeck über seine Ideen für einen besseren Sozialstaat - und sein Leben nach dem Kollaps.

Herr Platzeck, gibt es in Deutschland eine Unterschicht?

Es gibt eine größere Gruppe von Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen und leben. Das Wort Unterschicht mag ich nicht, es hat etwas Endgültiges und Diskriminierendes.

Neudeutsch heißt es nun "abgehängtes Prekariat". Reden Sie in der Kneipe auch so?

Der Begriff ist unwichtig. Entscheidend ist, dass wir darüber reden, wie wir den Menschen neue Chancen geben, und das auch noch in vier Wochen tun.

Helmut Schmidt sagt, er könne das Jammern über die Armut nicht mehr hören. Hartz-IV-Empfängern gehe es heute besser als Facharbeitern zu seiner Jugendzeit.

Das mag Helmut Schmidt so sehen. Für mich ist in Deutschland ein Wendepunkt erreicht. Bis in die 80er Jahre gab es selbst in sozial schwächeren Familien die Grundhaltung: Unseren Kindern soll und muss es mal besser gehen, dafür tue ich alles. Diese Haltung gibt es heute nicht mehr in jedem Haushalt. Das ist verheerend. Armut wird so vererbt, Bildungsarmut auch. Davor können wir die Augen nicht verschließen.

Ist das vor allem ein ostdeutsches Problem?

Es ist im Osten verbreiteter, auch schärfer ausgeprägt. Aber das sollte niemandem ein Trost sein - die Folgen treffen ganz Deutschland. Außerdem wächst in der Mittelschicht, die sich als Lastesel des Sozialstaates empfindet, die Angst vor dem Abstieg. Das macht die Gesellschaft kirre.

Was ist da schief gelaufen?

Sehr viel Geld fließt ja in unseren Sozialstaat, wir geben es nur falsch aus. Wir haben uns in den letzten 20 Jahren zu stark auf das Reparieren verlegt, auf die Nachsorge in Notfällen. Auf der anderen Seite haben wir zu wenig getan, um allen Menschen Lebenschancen zu bieten. Da müssen wir umdenken und umsteuern.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Ein Beispiel bitte!

Wir dürfen kein einziges Kind mehr zurücklassen. Ein hoher Prozentsatz der Sechsjährigen hat keine Einschulungsreife. Da können wir nicht zugucken, das holen die nie mehr auf. Wir können auch nicht länger zulassen, dass zehn Prozent ohne Abschluss die Schule verlassen. Diese Kinder sind bei den heutigen Anforderungen fast ohne Aufstiegschancen. Das ist ein Debakel für die Gesellschaft - und volkswirtschaftliche Selbstverstümmelung. Wir müssen am Anfang, bei den Kindern, ansetzen. Nur so entziehen wir neuer Armut den Nachwuchs.

Hat die SPD zu lange die Augen vor dieser Entwicklung verschlossen?

Mir geht es nicht um Schuldzuweisungen. Aber wir haben uns zu lange damit abgefunden, Arbeitslosigkeit in Teilen nur zu verwalten. Viele hatten wahrscheinlich im Hinterkopf: Das ist nur ein vorübergehendes Problem, das hört bald wieder auf. Wir haben die neue Qualität in der Schärfe so nicht erkannt.

Hat die SPD nicht auch die Linie verfolgt: Wir geben Geld und stellen damit ruhig - die Betroffenen und unser Gewissen?

Der Sozialstaat ist eine großartige zivilisatorische Errungenschaft. Aber alles hat seine Zeit, auch der Sozialstaat Bismarck'scher Prägung: ausschließlich über Beiträge finanziert - und wenn was nicht funktioniert, versucht man mit Geld für Ruhe im Karton zu sorgen. Wer den Sozialstaat wirklich erhalten will, darf über die erkennbaren Defizite nicht schweigen - und er muss Schlüsse daraus ziehen. Der wichtigste lautet: Es muss deutlich mehr Elemente der Vorsorge geben.

Was heißt das konkret?

Stück für Stück mehr Geld in Kindesentwicklung und Kinderbetreuung zu stecken, in Schwangerenberatung und Mütterbegleitung, in eine bessere pädagogische Ausbildung der Lehrer und Erzieher. Und, ganz wichtig: Wir müssen hin zu Ganztagsschulen. Das werden viele, gar nicht spektakuläre Einzelmaßnahmen sein, die aus einer Denke kommen müssen: vorsorgende Verantwortung.

Und wem wollen Sie dafür was streichen?

Wir haben einen gewachsenen Sozialstaat, auf den auch in Zukunft ein Mindestverlass sein muss. Auch das wird ein Prozess sein: Stück für Stück mehr hier rein, Stück für Stück hier raus. Ich will und muss schließlich eine Mehrheit für Investionen in die Köpfe kriegen.

Sie kneifen: Abschied von Bismarck, aber jeder Besitzstand muss gewahrt blieben!

Ich werde Ihnen den Gefallen nicht tun, Husarenmeldungen zu verkünden. Das erste Signal darf nicht sein: Wir nehmen irgendwo etwas weg. Sonst desavouieren wir die ganze Idee. Erinnern Sie sich: Wir haben mit schwierigen Reformschritten etliche Landtagswahlen verloren. Daraus müssen wir auch Lehren ziehen. Alles andere wäre Harakiri und Wahnsinn.

Also: Alles muss sich ändern, aber es bleibt, wie es ist!

Irrtum! Wir haben begonnen: mehr Steuerfinanzierung für die Arbeitslosen und in der Rentenversicherung. Bei der Krankenversicherung ist die Tür dafür offen. Oder: Rente mit 67. Das hat uns eine Menge Sympathien gekostet, geht aber in genau diese richtige Richtung - gesellschaftliche Realität anerkennen, nicht länger verleugnen und darauf reagieren. Vorsorgender Sozialstaat ist ein Prozess, der mindestens 10 bis 15 Jahre braucht. Da hilft kein Dekret. Sie müssen Leute gewinnen. Anders werden Sie scheitern.

Sie könnten zumindest sagen: Wenn es wieder Rentenerhöhungen von mehr als einem Prozent gibt, wird das anders verwendet.

Ich nehme was anderes: Kindergeld. Da gab es bislang alle zwei, drei Jahre Erhöhungen. Zu einem solchen Automatismus sage ich klipp und klar: Schluss damit. Zusätzliches Geld muss in Zukunft verwendet werden, um die Qualität der Kinderbetreuung zu erhöhen.

Aber so weit, Kindergeld sogar zu kürzen, würden Sie nicht gehen?

Ich weiß nicht, ob es gelingen würde, die Idee des vorsorgenden Sozialstaates so in die Herzen zu bringen, dass das als Vorteil begriffen würde.

Es ist doch besser, die Kinder werden gut betreut, als dass der Papa das Geld versäuft.

Solche Fälle gibt es, leider. Wenn Sie denen das Kindergeld kürzen, treffen Sie hunderttausend andere. Wir wollen aber das sichere Gefühl erzeugen: Es wird etwas besser, für mich, für meine Kinder. Und wir müssen das auch in die Mittelschicht vermitteln. Das sind schließlich die, die den Sozialstaat tragen.

CDU-Vize Jürgen Rüttgers hat eine andere Lehre gezogen. Er will älteren Arbeitslosen länger Arbeitslosengeld zahlen. Ist das kein Angebot an die verängstigte Mittelschicht?

Man muss bei Rüttgers nur mal die Kernsätze der letzten zweieinhalb Jahre nachlesen. Mal will er alles streichen, dann soll jeder mehr kriegen. Wer das nebeneinanderlegt, weiß, wie wahrhaftig die aktuelle Attitüde des selbst ernannten Arbeiterführers ist. Wenn es der CDU ernst wäre, hätte sie vorige Woche sagen sollen, dass sie die zusätzlichen Steuereinnahmen dafür verwenden will. Da kam aber nichts.

Ist es nicht gerecht, dass, wer länger eingezahlt hat, auch länger Geld bekommt?

Die Arbeitslosenversicherung ist keine Sparkasse. Sie funktioniert wie die Kasko-Versicherung. Sie ist für Notfälle gedacht. Die Frage ist: Wem nehme ich etwas weg, wenn ich den Älteren mehr gebe? Bekommen die Jüngeren, die genauso unverschuldet in Arbeitslosigkeit geraten können, nur noch vier Monate Arbeitslosengeld? Diese Frage muss doch von der CDU beantwortet werden, wenn es nicht nur Populismus sein soll.

Ist Rüttgers möglicherweise "alte SPD"?

(denkt nach) Das würde ich der alten SPD nicht zumuten.

68 Prozent der Ostdeutschen sind unzufrieden mit der Demokratie, in ganz Deutschland sind es 51 Prozent. Wie erklären Sie sich den wachsenden Staatsverdruss?

In der alten Bundesrepublik war Demokratie immer mit dem sicheren Gefühl verbunden: Es geht aufwärts. Jetzt erst muss sich beweisen, ob wir so standfeste Demokraten sind, dass wir auch Umbrüche verarbeiten können. Diesen Test haben wir noch nicht bestanden.

Je größer das Prekaritat wird, desto prekärer wird es auch für die Demokratie?

Ja. So ist es.

Seit Ihrem Rücktritt im April haben Sie sich zurückgehalten. Sind Sie jetzt wieder da?

Ich habe ein Amt abgegeben. Es gibt einen Nachfolger. Ich hätte es unanständig gefunden, mich alle zwei Tage zu melden: Ich hätte es aber so gemacht. Außerdem bin ich mit dem, was und wie es mein Parteivorsitzender tut, sehr einverstanden. Kurt Beck macht das sehr, sehr gut.

Er folgt dem von Ihnen angelegten Weg.

Ich habe immer gesagt, dass mir ein paar Dinge besonders am Herzen liegen. Dazu zählt das neue Grundsatzprogramm. Zweimal hat die SPD diese Debatte begonnen, und sie ist versandet. Das darf nicht wieder passieren. Ein tragfähiges Grundsatzprogramm ist ein Lebenselixier für die SPD.

Sind Sie denn wieder völlig fit?

Ich fühle mich fit. Ich mache auch wieder regelmäßig Sport, was sehr hilft.

Klingelt's bei Ihnen noch in den Ohren?

Na, klar. In beiden fiept's. Aber damit kann man leben. Der Kreislauf ist wieder gut, der Blutdruck ist okay.

Wie entspannen Sie? Sport, Yoga?

Ich brauche Sport. Ich habe meine feste Sechs-Kilometer-Strecke. Ich komme schon fast wieder an meine früheren Laufzeiten heran. Ich muss mich auch mal richtig austoben. Ich spiele gern Badminton, bis der Schläger kaputt ist. Das macht mich im Alltag wesentlich ruhiger und gelassener.

Macht das Pfeifen im Ohr nicht wahnsinnig?

Am Anfang ja.

Und wie lernt man, damit zu leben?

(lacht) Abends zwei Gläser guten Rotwein trinken. Ich bin der Typ, der, wenn es eine neue Situation gibt, sich sagt: So ist es nun. Du musst dich irgendwie damit abfinden.

Gegen Tinnitus hilft keine Therapie?

Richtig. Ein Professor hat mir gesagt: Hier sind alle Forschungsergebnisse. Bei einem klappt's, bei fünfen hilft es nicht. Dann haben wir entschieden, alle Medikamente wegzulassen.

Hatten Sie Ihre Kräfte überschätzt, als Sie das Amt des SPD-Chefs übernahmen?

Innerhalb von 24 Stunden kommen Sie nicht zum Nachdenken. Nachdem Franz Müntefering am Reformationstag vor einem Jahr erklärt hatte, dass er nicht mehr zur Verfügung steht, war klar: Wenn wir jetzt nicht eine Lösung finden, trudelt uns die Partei weg. Die Lage war hoch fragil. Der Schlüsselanruf war früh um acht von Kurt Beck. Er sagte: Du, ich kann's nicht, weil meine Landtagswahl vor der Tür steht. Und dann guckten alle mich an - und damit war es entschieden.

Welche Lehren haben Sie gezogen?

Ich hab mich besser kennengelernt. Ich kann Sachen nur ganz oder gar nicht machen. Mein Bundesland ist aber noch nicht in einem Zustand, dass man sagen kann: Komm, ihr schafft das auch mal ein paar Tage ohne mich. Vielleicht geht das in ein paar Jahren.

Sie sind doch flugs von Potsdam in Berlin.

Ich habe zuerst gedacht: Die Nähe zu Berlin ist ein Vorteil, man kann in 30 Minuten rüberfahren. Doch ständig wurde angerufen: Du hast es doch nicht weit, wir müssen uns heute Abend noch zusammensetzen, komm mal rüber. Schon saß ich um 21 Uhr wieder im Willy-Brandt-Haus. Manchmal ist es eben besser, wenn man aus Berlin wegfliegen kann ...

Hatten Sie sich zu viel vorgenommen?

Wir mussten die Arbeit am Grundsatzprogramm beginnen. Wir hatten das Einschaukeln der Großen Koalition zu organisieren. Dazu liefen parallel drei Landtagswahlkämpfe. Das war halt etwas dicke.

Als Sie in der Klinik lagen, die Infusionen flossen - was haben Sie da gedacht?

Wenn man stundenlang an die Decke starrt, kommt man auf die komischsten Gedanken. Aber ich bin ein sehr nüchterner Mensch. Die Aussagen der Ärzte, mein eigenes Empfinden - da waren mir die Alternativen klar: In ein oder zwei Jahren nicht mehr richtig krauchen zu können oder wieder zu sich zu kommen.

Ihr Kollaps war der letzte Warnschuss?

War's wohl.

Sind Sie ein wenig traurig, dass Sie nun nie Kanzlerkandidat werden können?

Also, solche Gedanken peinigen mich nachts nie. Ich bin traurig, dass ich nicht Vorsitzender bleiben konnte. Das Amt hatte meine Leidenschaft geweckt. Aber manchmal muss man einsehen: Die Dinge sind, wie sie sind, und man muss seine Konsequenzen ziehen.

Sie wollten mehr Zeit für die Familie haben. Hat das denn geklappt?

(lacht) Spätestens Weihnachten. Ich hatte auch in Brandenburg einiges nachzuholen. Aber ich hab mich zum Beispiel gestern mit meinen Töchtern getroffen. Wir hatten einen sehr schönen Abend. Als ich Parteivorsitzender war, war fast gar nix mehr, was das Leben ansonsten ausmacht.

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Interview: Andreas Hoidn-Borchers, Lorenz Wolf-Doettinchem