Erleben wir in Karlsruhe die Geburtsstunde einer neuen SPD?
Nein. Parteien erfinden sich nicht neu - auch wenn das rhetorisch immer wieder so postuliert wird. Die Partei hat 142 Jahre auf dem Buckel. Da gibt es eine Struktur. Da gibt es über 600.000 Mitglieder, die auch ein Stück Lebensgeschichte hinter sich haben. Das alles entwickelt sich ein Stück weiter. Ja. Aber, das ist ein kleiner Einschnitt, mehr aber auch nicht.
Was ist charakteristisch für den Einschnitt, den die SPD derzeit erlebt?
Eine Generation ist weg, die die SPD lange geprägt hat. Das sind diejenigen, die man entweder "die 68er" oder "die Enkel" nannte - Begriffe, die nie besonders scharf gewesen sind. Das sind Menschen aus außerordentlich kleinen Verhältnissen, oft aus Elternhäusern, die nicht vollständig waren. Sie sind aus diesen kleinen Verhältnissen mit ungeheuren Energien, mit ungeheuren Willenskräften ungeheuer robust nach oben gekommen. Das trifft auf Lafontaine gleichermaßen zu wie auf Scharping und Schröder. Die neue SPD hat diese Herkunft fast gar nicht mehr.
Jetzt übernehmen Jüngere wie Platzeck, Heil und Gabriel die Macht in der SPD. Viele davon gehören zu der Gruppe der "Netzwerker". Wofür steht denn dieses "Netzwerk"?
Das wissen die selbst auch nicht exakt. Das Netzwerk ist entstanden als Zusammenschluss für junge Abgeordnete mit hohem Party-Wert. Das ist ja auch ganz wichtig, denn man will ja in einer so großen Stadt wie Berlin nicht ganz alleine sein - das waren ähnliche Motive wie bei Erstsemestern. Das Verbindende war die Jugend. Die ersten Jahre gab es dabei überhaupt keine gemeinsame programmatische Plattform. In den letzten zwei, drei Jahren hat sich das geändert. Die Netzwerker haben sich bemüht, programmatisch etwas mehr zu machen, gerade weil sie mit dem Vorwurf konfrontiert wurden, Karrieristen zu sein. Sie haben versucht, bestimmte Begriffe zu wählen, um deutlich zu machen, dass sie etwas Eigenes wollen. Sie haben früh auf Familie und Bildung gesetzt - und waren deshalb auch enttäuscht, als diese Zukunftsbereiche an die Union gingen. Es ist sehr dünn, was es dort an Konzeptionen gibt. Die Netzwerker haben bisher keinen Entwurf für eine neue Sozialdemokratie vorgelegt.
Zur Person
Franz Walter, 49, ist Professor für Parteienforschung an der Universität Göttingen. Er schreibt regelmäßig Essays und Kommentare für Tages- und Wochenzeitungen.
Was verbindet die Nachfolger der Generation der "ganz kleinen Leute"?
Es ist eine Generation, deren Mitglieder in den späten 60er und in den 70er Jahren geboren wurden. Sie haben sich in den 80er Jahren politisch orientiert und auch dann, nach dem Abitur, entschieden, was sie beruflich machen wollen - Abitur haben sie fast alle. Ihre gleichaltrigen Kohorten-Kollegen gingen in dieser Zeit nicht in die Politik. Die Politik hat in den 80er und 90er Jahren kein besonders hohes Ansehen gehabt. Sie galt nicht mehr, wie in den 60er und 70er Jahren, als entscheidende Achse für die Gesellschaft - das war die Ökonomie, das waren die Medien. Insofern ist das so ein bisschen das kraftlose Mittelmaß, das damals in die Politik gegangen ist - inzwischen ist das wieder anders. Viele haben Biografien von Mitarbeitern, von Praktikanten, von Redenschreibern von Abgeordneten aus der Vorgänger-Generation. Aber einen spezifischen politischen Generations-Auftrag, der ist dort sehr schwer zu finden.

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Kann man mit dieser programmatischen Armut noch den Anspruch erheben, eine Volkspartei zu sein - oder muss man davon ausgehen, dass die SPD noch weiter schrumpft?
Die Volksparteien schrumpfen insgesamt. Das ist nichts Neues. Die Volksparteien sind ohnehin im Grunde genommen ein deutsches Spezifikum der 60er und 70er Jahre. Vielleicht gab es so etwas noch in Österreich. Sonst hat es dieses Phänomen in der Geschichte eigentlich nicht gegeben. Und in der europäischen Parlamentsgeschichte sowieso nicht. Im Grunde ist die Volkspartei ein Ausnahmezustand. Ich glaube, dass man jetzt zu einer gewissen Normalität gelangt. Als die Volksparteien besonders stark und besonders kräftig waren, haben sie jeweils einen spezifischen, attraktiven, kohärenten Kern gehabt. Die Union hatte Themen wie Patriotismus, Heimat, Familie, Religion - bei der Sozialdemokratie war es etwa die Mitbestimmung. Diese Dinge haben jedoch ihre Aura verloren, oder sie verbinden nicht mehr diese verschiedenen Milieus, die man bis dahin verbunden hatte. Die Volksparteien haben es jetzt außerordentlich schwer, so weit in die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft zu dringen wie zuvor. Das heißt aber nicht, dass die Sozialdemokratie oder die Union zerfällt, denn es heißt auch nicht, dass Parteien so ein Programm überhaupt brauchen. Die FDP hat eigentlich nie ein Programm gebraucht. Je stärker man in der Mitte der Gesellschaft ankommt, je weniger man sich gedrängt fühlt, etwas ganz anderes realisieren zu wollen, desto weniger braucht man ein Programm. Die Sozialdemokraten sind nicht mehr die Partei der Ausgebeuteten, der Entrechteten und der Randständigen.
Nähern wir uns damit Verhältnissen wie in den USA, wo die Parteien mehr Plattformen sind als ideologische Organisationen?
Das hätte man vielleicht noch vor acht Jahren sagen können. Inzwischen sind die amerikanischen Parteien ja gar keine Plattformen mehr. Sie polarisieren immer stärker, sie nehmen konkrete Identitäten an, sie unterscheiden sich klar in der Struktur ihrer jeweiligen Anhängerschaft und auch in dem, was an wichtigen Werten verfochten wird. Der letzte Wahlkampf in den USA war ein Werte-Wahlkampf. Das ist etwas, was wir hier für völlig absurd halten würden. Insofern kann man vielleicht erwarten, dass sich in der bundesdeutschen Parteienlandschaft vielleicht in zehn Jahren wieder etwas verschiebt. Wenn es zu viel an Ideologien gibt, sind es die Menschen irgendwann einmal leid. Wenn es zu viel Pragmatismus gibt, dann entsteht ebenfalls eine Gegenbewegung. Dann kommt eben wieder eine Generation, die Sinnstiftung, Orientierung, Transzendenz will. Wir haben in Deutschland seit 15 Jahren die Dominanz des Pragmatismus. Ich bin überzeugt davon, dass das irgendwann im Jahr 2010 auf mittlere Frist vorbei ist.