Pro
Vorsorgeuntersuchungen bei Kindern sind in Deutschland ein gut funktionierendes System. Im ersten Lebensjahr sind es sechs, dann kommen zwei weitere bis zum fünften Lebensjahr hinzu. Das Kinder-Vorsorgesystem ist das am besten angenommene Vorsorgesystem in Deutschland. Mehr als 95 Prozent der Eltern nehmen die Vorsorgen wahr. Die Kosten und der Aufwand, um die restlichen Kinder zu erreichen, sind also überschaubar. Diese Pflichtvorsorgen sollten alle sechs Monate durchgeführt werden. Dabei werden routinemäßig sowohl die körperliche als auch die geistige Entwicklung des Kindes überprüft. Kinderärzte können Abweichungen am besten registrieren.
Wenn ein Kind wie Lea-Sophie nicht mehr gedeiht, Verletzungen aufweist oder psychosoziale Verwahrlosungen zeigt, kann sofort reagiert werden. Außerdem ist meist der Kinderarzt auch der "echte Hausarzt". Er kennt die Familien und deren Probleme. Es muss selbstverständlich eine enge Vernetzung mit den Behörden geben, die dann nach Rücksprache mit dem Kinderarzt sofort handeln müssen. Fälle wie Lea-Sophie wären jedem Kinderarzt sicherlich sofort aufgefallen. Allein ihr Gewicht von 7,4 Kilogramm (normal mit 5 Jahren: ca. 20 Kilogramm) wäre schon lange ein alarmierendes Zeichen gewesen. Diese Gewichtsentwicklung entsteht nicht von heute auf morgen, sondern über einen längeren Zeitraum. Aufgabe des entsprechenden Amtes muss es dann sein, bei Nichterscheinen zu den Vorsorgen die Familien aufzusuchen. Eltern misshandeln ihre Kinder nicht aus Lust, sondern aus Hilflosigkeit. Durch regelmäßige Kinderarztbesuche kann oft schon im Vorfeld Hilfestellung gegeben werden. Durch halbjährliche Pflichtvorsorgen und bessere Vernetzung von Kinderärzten und Behörden hätte der Tod von Lea-Sophie verhindert werden können. Dies kann ohne großen finanziellen Mehraufwand erreicht werden.
Kontra
Alle Kinder haben im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 einen Anspruch auf eine bestmögliche gesundheitliche Versorgung. Ein System von verbindlichen Vorsorgeuntersuchungen stellt sicher, dass möglichst alle Kinder untersucht werden und ihr Gesundheits- sowie Entwicklungsstand beurteilt wird. Das derzeitige Kindervorsorgeprogramm ist aber ein reines Krankheitsfrüherkennungsprogramm und entspricht weder vom Inhalt noch von der Frequenz her den Erfordernissen der Zeit. Wir haben konkrete Vorschläge für ein inhaltlich und zeitlich erweitertes Vorsorgeprogramm für Kinder erarbeitet - mit vier zusätzlichen Untersuchungen im Alter von 3 (U 7a), 7 bis 8 (U 10), 9 bis 10 (U 11) und 16 bis 18 Jahren (J 2). Wir fordern Politik und Krankenkassen auf, dieses Angebot endlich flächendeckend für alle Kinder umzusetzen.
Es ist aber vermessen zu glauben, dass ein solches Vorsorgeprogramm allein bewirken kann, Gewalt gegen Kinder und deren chronische Vernachlässigung nachhaltig zu bekämpfen. Dazu bedarf es unbedingt zusätzlicher multiprofessioneller Netzstrukturen vor Ort, die für Familien annehmbare Hilfsangebote machen. In diesen Netzstrukturen müssen neben Kinder- und Jugendärzten die Geburtshelfer, Kinder- und Jugendpsychiater, Familienhebammen, Sozialarbeiter, der öffentliche Gesundheitsdienst, Sozialfürsorgerinnen und gegebenenfalls Kinderkrankenschwestern eng zusammenarbeiten. Wir Kinder- und Jugendärzte verstehen uns dabei als Netzakteur, als professionelle Fachleute, die aufgrund ihrer Aus- und Weiterbildung den Entwicklungsstand eines Kindes in den verschiedenen Lebensphasen qualifiziert beurteilen und daher einen Beitrag zur Früherkennung und -prävention von Kindeswohlgefährdung leisten können. Nicht mehr und nicht weniger. Wir sind bereit, Teil eines solchen Netzwerks zu sein.