Der SPD-Abgeordnete Marco Bülow hat etwas Unerhörtes getan. Er hat in einem Buch detailliert geschildert, wie Lobbyisten die Politik beeinflussen, auch die seiner eigenen Partei. Jetzt bekommt er dafür etwas auf die Mütze, sogar von Journalisten. Aber warum eigentlich?
"Wir Abnicker" heißt das Werk, das dieser Tage im Econ-Verlag erschien. Es ist in weiten Teilen eine spannende Lektüre. Oder welcher amtierende Abgeordnetenkollege hätte uns je so wirklichkeitsnah geschildert, wie sehr die Politik im Griff der Klientelinteressen ist?
Weil die FDP solche Interessen besonders ungehemmt bedient, können sich Politiker von SPD und Union in diesen Tagen so präsentieren, als seien sie besser als die Liberalen, als hätten sie nur das Gemeinwohl im Sinn. Bülows Buch beschreibt detailliert den Verlauf politischer Prozesse während der schwarz-roten Regierungszeit. Und er zeigt, wie die Lobby immer wieder auch diese Koalition im Griff hatte.
"Wer behauptet, Vertreter von Verbänden und Unternehmen tragen ihre Positionen vor und die Politiker wägen danach die Argumente ab, um am Ende eine sachliche Entscheidung zu treffen, ist entweder gnadenlos naiv, oder er lügt", bilanziert der SPD-Mann.
Er belegt das am Beispiel eines Vorhabens, das die sperrige englische Abkürzung CCS trägt. Das steht für "Carbon Capture and Storage", also das Abscheiden und spätere Einlagern des klimaschädlichen Gases Kohlendioxid, das bei der Stromerzeugung aus Kohle entsteht.
Weil saubere Kohlekraftwerke beim Kampf gegen den Treibhauseffekt durchaus helfen könnten, ist CCS potentiell ein wichtiges Vorhaben. Auch Bülow war als umweltpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion nicht prinzipiell dagegen. Aber er wollte der Industrie nicht zu weit entgegenkommen, sie nicht aus der Haftung für Risiken entlassen. Damit stand er lange nicht nur gegen weite Teile von CDU und CSU, sondern machte sich auch Feinde in der eigenen Fraktion. Dort sei es Unternehmensvertretern gelungen, Abgeordnete für sich zu gewinnen, die vorher nie mit dem Thema zu hatten - und die sich nun plötzlich für den eher industriefreundlichen Gesetzentwurf der Regierung einsetzten. Selbst mit "Beschuldigungen und Drohungen", schreibt Bülow, sei er in den eigenen Reihen angegangen worden. Sogar vor drohendem "Druck" aus seinem eigenen Wahlkreis habe man ihn gewarnt.
Die SPD habe hier der "Union zu schnell nachgegeben", bedauert Bülow. Doch am Ende war es ausgerechnet Kanzlerin Angela Merkel selbst, die den Gesetzentwurf ganz zurückziehen ließ. In der Zwischenzeit hatten nämlich die mächtigen Bauernverbände etwa in Schleswig-Holstein und Bayern Risiken für ihre Ländereien entdeckt, die von unterirdischen Kohlendioxidspeichern ausgehen könnten.

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Lange hätten keine Argumente gegen die Kraftwerkslobby gefruchtet, resümiert Bülow - bis "eine andere starke Lobby auf dem Spielfeld" erschien, die es in "kurzer Zeit" schaffte, "ohne sachliche Debatte das Gesetz komplett zu kippen".
Machtlose Abgeordnete, die nur abnicken, übermächtige Lobbyisten, die die Strippen ziehen - das mag nicht immer stimmen. Trotzdem bietet Bülows Buch eine Lektüre, die den Leser gruseln lässt. Da gibt es angeblich SPD-Abgeordnete oder Mitarbeiter, die interne Fraktionspapiere sofort an Unternehmensleute weiterreichen - als säßen die auch in vertraulichen Runden immer mit am Tisch. Bülow beklagt intransparente Überweisungen an Parlamentarier und "pompöse Feste", mit denen Unternehmen "Wohlfühllobbiysmus" machten. Firmen ließen es sich "gerne etwas kosten, die Abgeordneten zu umgarnen - sei es mittels einer Einladung zu einem opulenten Essen oder zu kulturellen und sportlichen Ereignissen der Extraklasse wie Leichtathletik- oder Fußballweltmeisterschaften". Wenn sich Abgeordnete von finanzstarken Interessenten einen attraktiven Job für die Zeit nach der Politik erhofften seien die "Übergänge zur Korruption fließend".
Auch die SPD mache es den Lobbyisten zu einfach, glaubt Bülow. Er prangert die "privilegierte Behandlung" an, die es für fraktionsinterne Dissidenten gebe, wenn die nur im Interesse mächtiger
Interessengruppen der Wirtschaft aufträten. Und er beschwert sich darüber, wie schwer es Abweichlern wie ihm in der Fraktion gemacht werde.
Bülow erwähnt nicht, dass auch die von ihm favorisierte Solarlobby inzwischen mit Geldgeschenken an alle großen Parteien für den Erhalt ihrer Subventionen kämpft. Er vergaloppiert sich, wenn er seiner hessischen Parteifreundin Dagmar Metzger ihren Aufstand gegen Andrea Ypsilanti übel nimmt - als dürften nur Linksabweichler Gewissensgründe in Anspruch nehmen.
Trotzdem hat Bülow ein Buch geschrieben, auf das man lange gewartet hat. Nicht umsonst warnt der 38-Jährige, dass die "Distanz zwischen den Politikern und der Bevölkerung" in den letzten Jahren "eher noch gewachsen" sei. Anfragen von Bürgern würden zunehmend "fordernder und unfreundlicher". Die Politik müsse Vertrauen zurück gewinnen, zum Beispiel mit mehr Transparenz und
Kontrolle des Lobbyeinflusses.
Dass Bülow - wie schon in der Vergangenheit - für solche Thesen parteiintern Prügel bekommen wird, lässt sich leicht ausrechnen. Erstaunlich, dass ausgerechnet ein Journalist des "Spiegel" dieser Tage sich zum Resonanzboden derjenigen macht, die fraktionsintern und lieber anonym über ihren Abgeordnetenkollegen herfallen: "Wenn alles so schlimm sei, solle er halt
aufhören", hat Christoph Hickmann vom Hamburger Konkurrenzmagazin in der SPD über Bülow gehört. Hickmann mokiert sich ein bisschen über "die Leiden des
jungen B." - fast so, als ginge es um das persönliche Leiden eines Sensibelchens, nicht um eine Malaise der Demokratie. Bei Bülow stelle sich "auch die Frage nach dem Motiv", findet der "Spiegel"-Kollege. Sei vielleicht dessen "Problem, dass er keine Karriere gemacht hat"?
Überzeugend ist der Anwurf nicht. Mit der Suche nach einem vermeintlich unehrenhaften Motiv kann man so gut wie jede menschliche Handlung diskreditieren - vom Profittrieb des Unternehmers bis zum angeblichen Helfersyndrom des Altruisten.
Es sei "verdienstvoll, immer für die gute Sache zu sein", räumt der Bülow-Kritiker Hickmann ein. Es sei "aber auch bequem, weil man jene
Grauzonen meiden kann, aus denen Politik nun mal ebenso besteht".
Ich denke, Journalisten sollten Grauzonen nicht ihre Notwendigkeit bestätigen, sondern sie ausleuchten. Bülows Buch ist dabei eine Hilfe.