Als Herdentiere sollten sich Journalisten nicht hergeben. Das zeigt die Wulff-Debatte. Die jetzige.
Wir kennen es aus dem Tierreich. Läuft der Leithammel vorne weg, trottet das Schaf hinterher. Nachdenken muss es dafür nicht. Die Anforderungen an Journalisten sollten höher sein.
Manche meinen, das Herdenprinzip habe vor gut einem Jahr in der Affärendebatte um Christian Wulff regiert. Mein Eindruck ist ein anderer: Wenn es einen Sieg des Leithammelprinzips über den Verstand gab, dann erleben wir ihn in diesen Tagen.
Was ist passiert? Die Staatsanwaltschaft in Hannover wirft dem ehemaligen Präsidenten Wulff Bestechlichkeit vor. Eigentlich ein ungeheuerliches Ereignis.
Aber führen die Vorwürfe der Staatsanwälte zu einer selbstkritischen Debatte in Politik und Gesellschaft? Hören wir eine Diskussion über die Methoden von Lobbyisten und anderen Wirtschaftsvertretern, Politiker erst anzufüttern und dann zu benutzen? Nein, diese Debatte gab es selbst vor einem Jahr nur in Ansätzen; heute findet sie gar nicht statt. Stattdessen setzt es öffentlich Prügel für die Staatsanwälte und ihren „Ermittlungsexzess“.
500 oder 700 Euro seien zu wenig, um einen deutschen Ministerpräsidenten zu bestechen, lautet das Argument. Möglich, dass am Ende das Gericht in Hannover zu diesem Urteil kommt. Aber zu einem abgewogenen Urteil gehört auch das Wissen, dass Wulff damals finanziell klamm war, dass selbst hohe Bundesbeamte keine Geschenke über 25 Euro annehmen dürfen, und dass ein damaliger Staatssekretär des Bundesumweltministeriums vor einigen Jahren wegen Fußballtickets für 300 Euro ins Visier der Strafjustiz geriet und nur per Geldauflage einer Anklage entkam.
Woher rührt bei einigen eigentlich immer wieder das sichere Urteil, dass alles dennoch in Ordnung sei? Hoffentlich nicht aus der Absicht, sich journalistische Zugänge bei den Betroffenen zu verschaffen. Sonst wäre auch die gegenwärtige Debatte vor allem ein Erfolg für die Anwälte von Christian Wulff und eventuelle Methoden der Litigation-PR.
Gewiss, hinter der gegenwärtigen Diskussion steckt mehr. Sicher geht es auch um Mitleid mit dem so tief Gefallenen. Das wäre eine schöne mitmenschliche Regung.
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Vielleicht geht es aber auch um etwas anderes: nämlich eine schlechte traditionsdeutsche Autoritätsgläubigkeit, zu der die Idee eines korrupten Staatsoberhauptes so gut passt wie Calamari zu Bratwurst.
Denn selbst grotesk windschiefe gedankliche Konstruktionen werden nun von einigen bewundert, als handele es sich um staunenswerte argumentative Gebäude. Eine Begründungskette – Achtung, festhalten - geht so: Die Anschuldigungen der Staatsanwaltschaft seien nicht sehr schwerwiegend. Deshalb taugten nun auch andere Vorwürfe nichts mehr, die im Februar 2012 mit zu dem Rücktritt von Christian Wulff führten.
Einen „Skandalisierungsexzess“ wirft die „Süddeutsche Zeitung“ nun retrospektiv den Medien vor, der dem „Ermittlungsexzess“ vorangegangen sei. Aber wo hat es den nach Ansicht der Kollegen eigentlich gegeben? Was sind die Belege für die Exzessthese?
Immer wieder zitiert wird ein Spielzeugauto. Und dies so häufig, dass der Präsident rückblickend „fast nur wegen eines Bobby-Car zurückgetreten zu sein“ scheint, wie die FAZ dieser Tage in einem klugen Kommentar spottete.
Doch auch eine große deutsche Wochenzeitung beklagte dieser Tage den medialen „Konformitätszwang“, der vor einem Jahr in der Wulff-Debatte geherrscht habe. Richtig ist allerdings auch dies: Im Januar 2012 kam es vor, dass besagte Wochenzeitung von uns enthüllte Fakten zum Thema Wulff zwei Wochen später erneut als angeblich exklusive Entdeckung verkaufte. Wenn ein Thema die Medien beherrscht, greifen einige gelegentlich mit einem gewissen Erfolg zu solchen Methoden der Zweitenthüllung.
Gewiss, bei dieser Wochenzeitung ist man sonst immer wieder zu eigenständiger Recherche und Meinungsbildung fähig. Die Kollegen werden uns sicher eines Tages erklären, wer sie damals zur Konformität zwang. Ich war es jedenfalls nicht.
Doch der Vorwurf des Skandalisierungsexzesses kann mich nicht kalt lassen. „In der Causa Wulff“ sei es „neben der Bild-Zeitung vor allem der stern“ gewesen, „der die zentralen Vorwürfe gegen Wulff recherchiert“ hat, bilanzierte kürzlich der Buchautor Michael Götschenberg.
Haben wir also im Übermaß recherchiert und berichtet? Und wenn ja, wo?
Die Antwort auf diese Frage hat uns bisher keiner gegeben. Doch Götschenberg diente dieser Tage dem Deutschlandfunk als Kronzeuge für eine besonders steile Version der Exzessthese. Angesichts der Ermittlungsergebnisse der Staatsanwaltschaft, so der Sender, seien „auch die Recherchen der Journalisten (...) zumindest aus juristischer Sicht wie ein Kartenhaus zusammengefallen“.
Wie bitte, lieber Deutschlandfunk? Sind kritische Berichte künftig nur noch valide, wenn sie in Strafverfahren münden?
Der Autor des DLF-Beitrags hatte mich zuvor interviewt. Und ich hatte ihn darauf hingewiesen, dass nichts von meinen Recherchen zum Fall Wulff vor Gericht attackiert wurde. Tausende von veröffentlichten Zeilen blieben unbeanstandet. Ja, möglicherweise lag das auch daran, dass wir aus Prinzip vor der Veröffentlichung von Vorwürfen die Betroffenen nicht nur anhören, sondern dann ihre Argumente auch ernst nehmen.
Aber die Herde braucht keine Argumente. Sie will, dass man sich der – vermeintlichen - Mehrheitsmeinung beugt. Es war wieder der Deutschlandfunk, der mir am Donnerstagabend vorwarf, ich hielte ja „gar nichts“ von einer selbstkritischen Mediendebatte.
Wahr ist, dass ich den DLF-Kollegen gefragt hatte, was sich die Medien denn im Rahmen der Selbstkritik vorwerfen sollten. Er nannte nichts, was er dem stern hätte ankreiden können.
Soll ich also aus dem Blauen heraus zur Selbstgeißelung schreiten? Kritik und Selbstkritik nach alter sozialistischer Schule? Damit ich mich wieder einfügen kann in’s große Journalistenkollektiv? Weil das Wir gerade so entscheidet?
Tut mir leid, liebe Kollegen. Diese Herde muss ohne mich weiterziehen.
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