Zwischenruf Zum ersten Mal berührt

Die Parteien proben den Ausbruch aus der Patt-Republik. In Hamburg umwirbt die CDU die Grünen, in Hessen nähert sich die SPD der Linken. Beides ist legitim, beides unvermeidlich. Und aus beiden Versuchen lässt sich eine Menge lernen.

Irgendwann ist immer das erste Mal. Und beim ersten Mal tut’s immer weh. Es schmerzt die SPD, bis zum Zerreißen, dass ihr Vorsitzender den Weg freigegeben hat für die Berührung der Unberührbaren in Hessen, zum ersten und einzigen Daseinszweck einer Partei: Machteroberung. Und es schmerzt die Grünen, bis zum Zerreißen, dass der Erzfeind in Hamburg die Arme weit öffnet für sie, zum ersten und einzigen Daseinszweck auch ihrer Partei: Machteroberung. Zweimal das erste Mal - und beide Male geht es um das Gleiche: Auswege zu finden aus der Patt-Republik, neue Wege aus der Lähmung des Fünfparteiensystems, aus der Not ungewollter Großer Koalitionen.

Schnell ist das gegangen, verblüffend schnell. Schneller, als parteipolitisches Denken seine Trägheit zu überwinden gewohnt ist. Womöglich zu schnell. Ganz sicher zu schnell für viele, denen neues Denken suspekt ist und die immer nur konventionell gedacht haben. Ein Wettlauf könnte daraus werden, um neue strategische Optionen. Aber auch ein Scheitern, weil die Trägen nicht beweglich genug sind für das Rennen, die Trägen bei SPD, Union und Grünen. Lehrreich ist es auf jeden Fall, ungeheuer erhellend. Exemplarisch dafür, was vonnöten ist, was unvermeidlich und vermeidbar, wenn neue Wege gangbar gemacht werden. Zwei Exempel, das eine so legitim wie das andere.

Führung ist vonnöten, das vor allem.

Führung durch Figuren von Format, die begreifen, dass die Stunde gekommen ist, die Mut und Überzeugungskraft aufbringen, um die Zaudernden mitzunehmen, ja mitzureißen. Vielleicht sogar: sie zu begeistern. An solchem Format aber mangelt es - noch - in beiden Fällen. Kurt Beck hat niemanden mitgenommen, niemanden begeistert, als er verdeckt und verdruckst sein Plazet dafür gab, dass sich Andrea Ypsilanti mit den Stimmen der Linken zur Ministerpräsidentin wählen lässt, wenn alle anderen Optionen, die Ampel mit der FDP wie die Große Koalition mit der CDU, noch einmal öffentlich vorexerziert, gescheitert sind. Das ist nicht bloß eine taktische, das ist eine strategische Wende von enormer Tragweite, der ein rasanter Prozess der Annäherung folgen kann, von der Kooperation bis zur Koalition, jederzeit und überall. Denn Berührung weckt Verlangen.

Das Richtige falsch anzugehen, das war vermeidbar. Richtig ist, Roland Koch zu stürzen, den Hasardeur, der sich von „Bild“ auf eine vergiftete Kampagne hieven ließ und eine historische Abfuhr erhielt. Richtig ist auch, das unhaltbare Berührungsverbot gegenüber der Linken im Westen aufzugeben.

Falsch war, das nicht offen und offensiv begründet zu haben. Kurt Beck, der Geschmähte und Unterschätzte, hat recht, wieder einmal, aber er hat nicht richtig geführt. Führung fehlt auch, schmerzlich erkennbar, den Hamburger Grünen. Ein beherzter Mensch, der sich an die Spitze der Bewegung setzt und verkündet: Die Zeit ist reif, die Gelegenheit günstig, um Schwarz-Grün auf Landesebene zu wagen, kein Ort so geeignet wie das urbane Hamburg, kein Partner so offen wie der unkonventionelle Ole von Beust. Joschka Fischer war eine solche Figur, als er Rot-Grün in Hessen wagte - seine Partei mitriss, begeisterte. Und damit eine strategische Option auch im Bund öffnete, so wie Schwarz-Grün in Hamburg einer Jamaika-Koalition in Berlin 2009 den Weg bereiten könnte. Die Hamburger Grünen hingegen präsentieren sich als Partei kollektiven Händchenhaltens, verhuschter Risikoscheu und mäkeliger Unvereinbarkeitsklauberei.

Kurt Beck hat Recht, aber er hat nicht richtig geführt.

Den Hamburger Grünen fehlt ein beherzter Mensch, der sich an die Spitze der Bewegung setzt

Dreierlei ist noch zu lernen aus Hessen und Hamburg. Erstens: Betonierte Koalitionsversprechen und -verweigerungen sind im Fünf-Parteien-System halsbrecherisch, sie münden in Wahlbetrug. Zweitens: Innerparteiliche Zerreißproben sind unvermeidlich beim Einüben in dieses System. Bei der SPD, die Beweglichkeit im Umgang mit der Linken zu beweisen hat, nicht weniger als bei der Union, die lernen muss, die Grünen zu lieben, wie umgekehrt bei den Grünen, die nicht umhinkommen Abschied zu nehmen vom geliebten Feindbild CDU - und nicht zuletzt bei der FDP, die achtgeben muss, dass sie die neue Beweglichkeit (der anderen) nicht verschläft und am Ende als schwarze Witwe in Einsamkeit welkt. Alle gemeinsam haben schließlich zu lernen, sich nicht von der Angst vor Wählerverlusten durch neue Bündnisse überwältigen zu lassen. Dieses Risiko teilen sie.

Und drittens: Die Große Koalition in Berlin ist zu Ende. Sie ist im Zustand permanenter Prügelei und wechselseitiger Blockade nach 2009 nicht fortzusetzen. Bis dahin wird Deutschland von einer geschäftsführenden Regierung verwaltet, ohne Gestaltungskraft. Könnte das Elend dennoch kein Ende finden, weil die Player ein anderes Spiel verweigern, wäre das nicht weniger als eine Katastrophe.

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Hans-Ulrich Jörges