"Haben Sie von den Vergasungen gewusst?", fragt der Richter eindringlich. "Nein!" ruft der SS-Offizier Robert Mulka, der in Auschwitz Adjutant des Lagerkommandanten war. Der Tonbandmitschnitt aus dem Frankfurter Strafprozess mit dem Aktenzeichen 4 Ks 2/63 geht unter die Haut - auch über 40 Jahre nach der Befragung. Der Hamburger Kaufmann Mulka, der von Ende 1963 bis 1965 mit 18 anderen SS-Angehörigen und einem Funktionshäftling auf der Anklagebank saß, wurde schließlich im Alter von 70 Jahren wegen Beihilfe zum Mord zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt.
"Ein Meer von Blut im Sand versickert"
Als die Urteile im Frankfurter Auschwitz-Prozess fielen, herrschte im Saal des Bürgerhauses Gallus eisiges Schweigen. Sechs Mal lebenslang, drei Freisprüche, die elf Haftstrafen wegen Beihilfe zum Mord meist am unteren Rand des Möglichen: So sah die Reaktion der deutschen Justiz auf den Massenmord der Nationalsozialisten an Juden, Behinderten, Sinti und Roma aus. "Es ist, als ob ein Meer von Blut im Sand versickert", schrieb der Korrespondent der französischen Zeitung "Le Monde". Ursprünglich hatten die Frankfurter Staatsanwälte gegen mehr als 500 NS-Verbrecher ermittelt.
Die eigentliche Bedeutung des Prozesses liege aber nicht nur in den individuellen Strafen, sagt Micha Brumlik, Direktor des Frankfurter Fritz-Bauer-Instituts. Er sieht wie die meisten Zeitgeschichtler und Politologen den Auschwitz-Prozess als ersten Wendepunkt der kollektiven Erinnerung der Deutschen an die eigenen Verbrechen. Die Berichte in den Tageszeitungen schilderten Kadavergehorsam und Brutalität der Bewacher, der Name des Vernichtungslagers Auschwitz mit seinen mehr als einer Million Toten wurde zur Chiffre für den SS-Unrechtsstaat.
Polizisten salutierten vor SS-Angeklagten
Die allgemeine Stimmung im Nachkriegsdeutschland macht Brumlik an einer heute kaum noch vorstellbaren Szene fest: Als die angeklagten SS-Offiziere zum Mittagessen den Gerichtssaal verließen, salutierten Polizisten vor ihnen. In den Jahren der Ermittlungen hatte der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer erhebliche Widerstände in der Justiz zu überwinden. Wichtigster Etappensieg des jüdischen Ex-Häftlings und Emigranten Bauer war 1959 die Entscheidung des Bundesgerichtshofs, in Frankfurt alle Auschwitz-Verfahren zu konzentrieren. Bis dahin hatte sich keine deutsche Staatsanwaltschaft verantwortlich gefühlt.
"Die Justiz wollte da eigentlich nicht ran", bestätigt der pensionierte Jurist Heinz Dyx. Als Ermittlungsrichter sollte er die Ergebnisse der Staatsanwälte überprüfen, berichtet der 79-Jährige. Die "Anregung" von höherer Stelle sei dahin gegangen, die ganze Geschichte in einzelne Verfahren aufzuteilen, was Bauer und auch er auf jeden Fall verhindern wollten. "Es kam ja darauf an, die Strukturen aufzuzeigen." Zweite treibende Kraft neben Bauer war der Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, Hermann Langbein, der viel Material heranschaffte und den Kontakt zu den in alle Welt verstreuten Überlebenden herstellte.
Auf der Anklagebank saßen nach zwei Verfahrensabtrennungen und dem Tod zweier Beschuldigter 20 von ursprünglich 24 Angeklagten. Die ranghöchsten SS-Offiziere waren die Adjutanten Robert Mulka und Karl Höcker. Nicht mehr greifbar waren die Lagerkommandanten Rudolf Höss (in Polen zum Tode verurteilt) und Richard Baer (in der U-Haft gestorben).
Neben ihnen saßen fünf Mitglieder der Lager-Gestapo, vier Aufseher, drei Sanitäter, drei KZ-Ärzte, der Lager-Apotheker, der Kleiderkammer-Verwalter und der einzige "Funktionshäftling", der brutale Kapo Emil Bednark. Unter den sechs Lebenslangen war der "Teufel des Lagers", Wilhelm Boger, der Häftlinge wahllos erschossen und in der berüchtigten "Boger-Schaukel" zu Tode geprügelt hatte. Eine Strafanzeige gegen ihn war der Auslöser des ganzen Verfahrens.
"Endlich einen Schlussstrich ziehen"
Die Reaktion der Bevölkerung im Deutschland der Wirtschaftswunderjahre hingegen schwankte kurz vor Beginn des Prozesses zwischen Desinteresse und Verdrängungswillen. Im Oktober 1963 lehnte eine Mehrheit von 54 Prozent die NS-Prozesse ab und stimmte dem Satz zu: "Ich meine, es wäre gut, endlich einen Schlussstrich zu ziehen."