Das Massaker dauert 20 Minuten. Zar Nikolai II. stirbt als erster - durch einen gezielten Pistolenschuss ins Herz. Dann schießen die Bolschewiki auf Nikolais Gattin Alexandra Fjodorowna, die Töchter Olga, 23, Tajana, 21, Maria, 19, Anastasia, 17, auf Thronfolger Alexej, 14, und vier Angestellte der Zarenfamilie. Doch einige Kugeln dringen zum Entsetzen der Soldaten nicht in die Körper der Zarentöchter ein: Die jungen Frauen hatten sich Juwelen in die Korsagen eingenäht, um im Exil über Vermögen zu verfügen. Statt der Kugeln durchbohren dann Bajonette ihre Leiber.
Mit der Erschießung der Zarenfamilie vor neunzig Jahren bereiten die Bolschewiki nicht nur der über 300 Jahre währenden Herrschaft der Romanow-Dynastie ein Ende. In der Nacht zum 17. Juli 1918 treffen die Kugeln und Bajonette auch die Repräsentanten des alten Systems, das die russische Revolution hinwegfegt. "Wir haben etwas Großes vollbracht und die Dynastie ausgelöscht", sagt der Befehlshaber des Exekutionskommandos, Jakow Jurowski, nach der Tat. Mit dem Tod der Romanows ist die Wiederherstellung des Zarenreiches ausgeschlossen. Stattdessen beginnt in Russland die Epoche von über sieben Jahrzehnten des Kommunismus.
Leichen eilig verscharrt
Noch in der Nacht der Erschießung ließ Jurowski die elf Leichen aus dem Keller in den Wald bringen. Die Zeit drängte, denn zarentreue Truppen näherten sich Jekaterinburg. Erst, als er die Leichen entkleiden ließ, entdeckten die Bolschewiki die eingenähten Juwelen. Mehrere Kilo Edelsteine und Schmuckstücke sammelten die Revolutionäre ein, verbrannten dann die Kleider der Zarenfamilie und warfen die elf Leichen in einen Bergwerksschacht.
Doch am nächsten Tag kamen Jurowski Zweifel, ob die Leichen sicher genug versteckt waren. Die Bolschewiki mussten verhindern, dass das Grab entdeckt und zur Pilgerstätte für Zarenanhänger werden konnte. In der Nacht nach der Erschießung kehrte Jurowski mit einem Kommando zum Schacht zurück. Die Leichname wurden geborgen und noch tiefer in den Wald gefahren. Zwei Leichen luden die Männer ab, übergossen sie mit Benzin und zündeten sie an. Die Asche vergruben sie.
Das Geheimnis für immer bewahren
Die sterblichen Überreste der anderen Erschossenen legten sie in eine Lehmgrube und übergossen sie mit Schwefelsäure. Dann schütteten sie die Grube zu, fuhren mehrmals mit einem Lastwagen über das Grab und deckten es schließlich mit Baumstämmen ab. Erst, als die Grabstelle aussah, wie eine Wegbefestigung, war Jurowski zufrieden und sicher, dass sie nicht entdeckt werden wird. Dennoch verpflichtete er alle Mitwisser, "das Geheimnis für immer zu bewahren".
Die Vorsicht Jurowskis war begründet. Nur acht Tage nach der Erschießung nahmen zarentreue Truppen Jekaterinburg ein. Schon bald bekam der Beamte Nikolai Sokolow den Auftrag, die Zarenfamilie zu finden. Bei seinen Ermittlungen fand er den Schacht, in den die Leichname in der Nacht der Ermordung geworfen wurden. Er entdeckte auch zahlreiche persönliche Gegenstände der Zarenfamilie, Revolverkugeln, Knochenstücke und Asche. Sokolow ging deshalb davon aus, dass die Familie erschossen und die Leichen verbrannt wurden. Seine Fundstücke brachte er ins Ausland und veröffentlichte 1924 in Paris seinen Untersuchungsbericht.
Schädel verstecken unterm Bett
Erst 1978 machte sich wieder jemand daran, das Grab der Zaren zu finden: der Jekateriner Geologe Alexander Awodin. Tatsächlich fand er nach mehreren Monaten der Suche in der Nähe des Dorfes Koptjaki die vermeintliche Wegbefestigung aus Baumstämmen, unter der die Leichen verborgen waren. Und er entdeckte menschliche Schädel mit Säurespuren. Doch weil die sowjetischen Wissenschaftler fürchteten, politisch in Misskredit zu geraten, weigerten sich alle Experten, die gefundenen Schädel zu untersuchen. Ein Jahr lang bewahrte Awodin die Schädel unter seinem Bett auf, bevor er sich entschloss, sie wieder an der Fundstelle zu vergraben.
Erst nach dem Ende der Sowjetunion wurden 1991 bei offiziellen Ausgrabungen Schädel und Skelettteile von neun der Opfer gefunden: fünf weibliche und vier männliche. Die Untersuchungen des Gerichtsanthropologen Sergej Abramow ergaben: Es waren die sterblichen Überreste von Nikolaus II., seiner Frau Alexandra, der Zarentöchter Olga, Tatjana und Anastasia, sowie der vier Bediensteten der Zarenfamilie. Die Romanows wurden in ihrer Failiengruft in St. Petersburg beigesetzt.
Gebeine eindeutig identifiziert
Doch die Gebeine von Thronfolger Alexander und Zarentochter Maria fehlten weiterhin. Erst 2007 wurden sie in einem Grab in Jekaterinburg entdeckt. Österreichische Gerichtsmediziner haben ihre sterblichen Überreste identifiziert. "Mit der Identifikation der zwei bisher vermissten Kinder des letzten russischen Zarenpaares ... haben wir alle sieben Personen der Romanow-Familie zusammenführen können", sagt der Molekularbiologen Walther Parson vom Forensischen Institut in Innsbruck. Die Ergebnisse seien trotz der schlechten Gewebeproben eindeutig. Auch russische Ermittler teilen diese Überzeugung. Beinahe auf den Tag genau neunzig Jahre nach ihrer Ermordung sterben auch die letzten Zweifel am Schicksal der russischen Zarenfamilie.
Es bedeutet auch das definitive Ende des Mythos' Anastasia, der in der Todesstunde der Zarenfamilie geboren wurde. Als im Februar 1920 eine Frau nach einem Selbstmordversuch aus dem Berliner Landwehrkanal gerettet wurde, glaubte das Pflegepersonal der Nervenklinik, in die die Frau gebracht wurde, aus ihren wirren Erzählungen herauszuhören, dass sie Anastasia sei. Da die Bolschewiki die Öffentlichkeit über das Schicksal der Zarenfamilie im Unklaren gelassen haben, verbreitete sich endgültig das Gerücht, dass Anastasia das Massaker überlebt habe und dank eines zarentreuen Soldaten über Rumänien nach Berlin habe fliehen können.
Verdacht der Hochstapelei bestätigt
Die Staatsanwaltschaft nahm sich des Falles an. Fotos und Schriftproben wurden verglichen, Verwandte der Romanows und ehemalige Bedienstete des Zarenhofes befragt, Gesicht und Gliedmaßen der Frau vermessen. Der leitende Polizeikommissar kam zu dem Ergebnis, die Frau sei aller Wahrscheinlichkeit nach die polnische Wanderarbeiterin Franziska Schanzkowska. Eine Berliner Boulevardzeitung fand sogar eine Schwester Schanzkowkas, die den Verdacht der Hochstapelei gegen Franziska bestätigte.
Dem noch jungen Mythos konnte das alles nichts anhaben. Die Medien nahmen sich der Frau an, die sich bald den bürgerlichen Namen Anna Anderson zulegte. Ihr Gesicht erschien auf immer mehr Titelseiten, nach einer umjubelten Amerika-Tournee verfilmte Hollywood mehrfach die Geschichte der Zarentochter, die ihre eigene Erschießung überlebt und erst Jahre ihre Identität offenbart. Alle Filme hatten dasselbe, glückliche Ende: Anna Anderson wird als Zarentochter Anastasia anerkannt.
Das Leben - anders, als im Film
Das wahre Leben der Anna Anderson verlief jedoch anders als im Film. Als sie 1984 starb, glaubte kaum noch jemand daran, dass sie Anastasia war. Doch letzte Gewissheit bekamen alle Zweifler erst Jahre nach ihrem Tod: 1994 wurde mittels einer DNA-Probe zweifelsfrei festgestellt, dass Anna Anderson nicht die überlebende Zarentochter Anastasia war.
Schon früh wurde das genaue Schicksal der Zarenfamilie untersucht. Doch im Dunkeln geblieben ist es dennoch fast ein Jahrhundert lang.