Die folgenden Briefe stammen von Paul M.-W., geboren im März 1922. Er wurde im Oktober 1941 von der Wehrmacht eingezogen. Seit dem 5. Januar 1943 bleibt Paul in Stalingrad vermisst. Er war dort als Gefreiter eingesetzt. Die Briefe richten sich an die Eltern und Geschwister.
Osten, 20.11. 42
"Ihr Lieben!
Es wäre so schön gewesen.....und hat nicht sollen sein! Wie ein Blitz aus heitrem Himmel kam heute über uns die Urlaubssperre! Also ist es aus mit dem Urlaub. Ich komme nicht.
Es ist zum K....Ich bin in der richtigen Stimmung. In 10 Tagen sollte ich abfahren, in 20 wären wir zusammen gewesen, in 30 hätten wir ein schönes Weihnachtsfest feiern können. Alles K...
Das ist der Lohn, das ist der Dank. Wenn die Urlaubssperre so lange dauert wie im letzten Jahr, so braucht Ihr bis zum Sommer nicht mit meinem Erscheinen zu rechnen. Es wird so sein, wie es allen älteren Kompanieangehörigen gegangen ist: 21 oder mehr Monate ohne Urlaub! Diesmal war es die einzige Gelegenheit, aus der Reihe zu tanzen. Kaum wird diese Gelegenheit wiederkommen.
Innerlich wie äußerlich hatte ich mich schon auf diese 21 Tage vorbereitet: Meine schwarze Hose tipp topp sauber gemacht, Mantel genäht und den Schlips gebügelt (nachts beim Schlafen). Umsonst!
Ich ärgere mich weniger meinethalben, als vielmehr deswegen, weil Ihr Euch in jedem Brief auf ein baldiges Wiedersehen gefreut habt. Mir tut deswegen Mutti leid und Vati nicht minder. Auf denn im nächsten Jahr und seid nicht zu optimistisch! Sperre ist Sperre! Da gibt es kein plötzliches Erscheinen in der Heimat.
In der Hoffnung, Euch alle noch einmal gesund wiedersehen zu können, bin ich
Euer treuer Paul"
Im Osten, 25.11.42
"Ihr Lieben!
Einen kurzen Gruß und die Mitteilung, dass es mit gut geht, sende ich Euch heute aus dickem Mist. Hoffentlich erhaltet Ihr diesen Brief. Gelegenheit zum Schreiben habe ich nicht mehr so oft, wir haben viel zu tun.
Die Urlaubsvorfreude war leider nur zu kurz, schade drum! Euch allen viele Grüße, alles Gute und viel Glück!
Euer Paul"
(Anmerkung: Am 23. Novewmebr 1942 verbot Hitler den Ausbruch aus dem Kessel und gab den "Durchhaltebefehl".)
Russland, 29.11.42
"Meine lieben Eltern, liebe Geschwister!
Zum Weihnachtsfest wünsche ich Euch alles Gute und hoffe, dass Ihr es in altgewohnter Weise froh und lustig begehen könnt. Für mich ist es das zweite Weihnachten in der Fremde. Vor einiger Zeit lebte ich etwa eine Woche mit Urlaubsfreude und ich war sicher, dass ich Euch nicht schriftlich zum Feste beglückwünschen brauchte. Hätte man mir keine Hoffnungen gemacht, mir wäre alles viel leichter gewesen! Trotzdem habe ich mich damit abgefunden. Ihr feiert sicher irgendwo in einem stillen Ort in Westfalen und habt sicher alle Urlaub. Ich hatte mich so darauf gefreut, dabei zu sein!
Wenn es gut geht, feiere ich das Fest in unserem Unterstand, unserem Bunker im Kreise unseres Trupps. Die erste Front - Weihnachten hat natürlich auch gewisse Reize, die zwar das Heimat-Weihnachtsfest nicht im Entferntesten aufwiegen können.
Es geht uns in diesen Tagen leider nicht so gut. Einige zarte Andeutungen im OKW Bericht dieser Tage geben das bekannt. Doch das wird hoffentlich bald eingerenkt sein. Macht Euch aber nicht unnötig Sorgen, dank einiger aufgesparter Verpflegungsreserven leiden wir noch keine Not. Es ist aber anzunehmen, dass dieser Zustand nicht lange dauert.
Ich kann Euch beim besten Willen nichts schicken, so gern ich das täte. Ich bin froh, wenn dieser Brief Euch erreicht! So bitte ich Euch, für jeden, Vater, Mutter, Rosel und Eberhard je 10 Mark von meinem Sparbuch zu holen und das für zwei Opern oder Schauspiele zu verwenden. Schreibt mir aber, was Ihr gesehen habt und wie es Euch gefiel. Theaterbesuch ist mein sehnlichster Wunsch, doch da er unerfüllbar ist, freue ich mich, wenn Ihr gehen könnt. Gestern kam etwas Post, und für mich war ziemlich viel dabei. Von Rosel kam ein Kilo - Päckchen mit einem Ärmelpullover, einem Heftchen und Gebäck. Ich danke Dir, liebe Schwester, aber macht um Gottes Willen Schluss mit den Wintersachen! Ich bin ausgerüstet wie zu einer Polarexpedition!
Von Vater habe ich wieder zwei Heftchen technischen Inhalts bekommen. Ich möchte nur wissen, woher Du den Riecher hast! Du triffst genau das, was ich wollte. Im Ganzen erhielt ich jetzt bisher 4 dieser Heftchen, eine willkommene Sendung! Eberhards Brief machte mir viel Freude, weil er mir das erste Mal von der Schule berichtete. Dass Du, lieber Eberhard, KV (kriegsverwendungsfähig), ist ja wohl selbstverständlich, sonst hättest Du Prügel verdient!
Wie die Post zu uns kam, ist mir bis jetzt noch ein Rätsel, vielleicht per Ju, jedenfalls war es eine freudige Überraschung. In dieser Zeit lese ich viel von Friedrich Hebbel und den Roman von Anzengruber "Sternsteinhof". Ferner fange ich an, aus den technischen Heften Altes und Neues durchzukauen und es erwacht in mir wieder die alte Freude am Lernen und an meinem künftigen Beruf. Könnt Ihr mir noch einen kleinen Rechenschieber irgendwo auftreiben? Son Ding könnte ich hier prima gebrauchen, vor allem, wenn er handlich ist.
Nun wünsche ich Euch nochmals zum Weihnachtsfest alles Gute und Schöne und viel Freude bei der Bescherung.
Viele Grüße
Euer Paul"
30.11.42
"Lieber Vater!
Einen fröhlichen Weihnachtsgruß aus dem ganz und gar unfröhlichen Russland! Ich wünsche Dir alles Gute, viel Tabak und baldmöglichst eine neue Wohnung.
Nun werdet Ihr das Fest ohne mich feiern. Wie hatte ich mich darauf gefreut; und gerade Dir hatte ich am meisten zu erzählen! Ich glaube aber, dass Du den Grund meines Hierbleibens kennst! Auf denn im nächsten Jahr! Ich feiere das zweite Weihnachtsfest fern von zu Hause, im Bunker an der Wolga. Wolga Rhein, welche Entfernung! Wir werden uns aus dem dürren Steppengras einen Christbaum zurechtschustern, einen Holzscheit mehr in den Ofen legen und mal nicht an den Komiss denken. Und dann werden die Päckchen ausgepackt, ich glaube, man kommt dann um den "toten Punkt" rum.
Ich glaube, dass Du Dir vor einem Jahr unsere Lage heute doch anders vorgestellt hast, ich nämlich auch! Der Feind ist stark geworden und es wird noch viel Wasser die Wolga hinunterfließen, bis die Ostsoldaten zurückkehren können. Auch der westliche Gegner ist frecher geworden. Alles in allem ist die Lage ernst, aber noch lange nicht hoffnungslos.
Im nächsten Jahr wird auch der letzte von uns dreien das Elternhaus verlassen und Ihr werdet allein sein. Ab und zu kommt dann wohl mal ein Rekrut oder eine ewige Studentin oder vielleicht "sogar" einer aus Russland ins Haus geflogen und immer auf beiden Seiten die Freude groß sein.
Drum nochmals: Frohe Weihnachten! Ich weiß, wenn Du da bist, dass Du die Feier wie immer wieder mit viel Freude und Überraschungen, mit viel Geschmack und Geschick ausstattest und bin mit vielen Grüßen
Dein Sohn Paul"
30.11.42
"Liebe Mutter!
Ich wünsche Dir zum Feste alles Gute, und dass Du es bei voller Gesundheit und Fröhlichkeit begehst. Gerade die Fröhlichkeit ist es, an die ich oft denke, wenn ich Dich in diesem verfluchten Land lebendig werden lasse. Die hat Dich eigentlich nie verlassen und half uns auch immer über vieles hinweg. Und sicher haben auch die Tommys Deine Frohnatur nicht stehlen können.
Eigentlich habe ich noch nie davon geschrieben, wie doch hier draußen eine Mutter fehlt. Ein gewisser Stolz hielt mich davon zurück. Ob ich nun beim Knöpfeannähen bin, oder ich stopfe gerade Strümpfe, wasche die Kleidung, oder ich koche, - immer muss ich dann an Dich denken, denn das hast Du uns früher alles abgenommen, ja, ich hatte noch nicht einmal daran gedacht. Wenn ich mit dem Messer ein Stück Butter holen will, dann höre ich Deine mahnende Stimme: "Langsam mit der Vigeline, sie ist noch neu!", dann schmiere ich mir nur die Hälfte aufs Brot. So hast Du uns das Wirtschaften beigebracht, und wer das kann, hat hier schon halb gewonnen.
Dir steht nun wieder ein Umzug bevor. Ich weiß, wieviel Arbeit und Sorge das ist. Dein jüngstes "Blag" wird Dich dann auch verlassen, Du hast dann zwar weiter Sorgen, aber auch Kurzweil weniger.
Für die vielen Päckchen dankend verbleibe ich Dein treuer Sohn, der Dir nochmals alles Gute wünscht.
Heil Mutti!
Paul
Willst Du mich nicht einmal hier besuchen?"
30.11.42
"Liebe Schwester!
Zu Weihnachten, das Du hoffentlich zu Hause, das heißt: irgendwo mit den Eltern verleben kannst, wünsche ich Dir alles Gute, einen Berg von schönen Sachen und viel Fröhlichkeit.
Es ist eigenartig, dass wir uns jetzt auf einmal recht gut verstehen. Weise Leute sahen das voraus. Wie Katz und Maus verbrachten wir doch oft unsere Kinderzeit und wie oft lagen wir uns in den Haare! Als Überbleibsel aus dieser Zeit taucht in meinen Briefen noch ab und zu eine kleine Gemeinheit auf, und sei es nur in einem Bild oder einer Andeutung. Ich weiß aber, wie Du es auffasst und Du weißt, wie ich das meine. Dass wir uns darüber im Klaren sind, beweisen Deine liebevollen Päckchen mit den leckeren und warmen Sachen. Ich habe Dir viel zu danken. Aus diesem Grund erwähne ich auch nichts mehr von meiner Beförderung durch Dich, die mich bei jedem Postgang rasend machte.
Nun verlebst Du die immer schöne Studentenzeit mit aller Arbeit und Freude. In gewisser Hinsicht hast Du es da noch etwas besser, da Du so eine geheimnisvolle kleine Bude besitzt. Zusätzliche Finanzen ergaunerst Du Dir noch von geistig Minderwertigen (wie gemein!). Ist es Dein erstes selbst verdientes Geld?
Ich bin gespannt, wann und wie die ersten Produkte Deiner sturen Pädagogik herumlaufen werden! Ich sehe schon deren lebensmüde und abgearbeitete Gesichtszüge! Doch heute will ich einmal nicht gemein werden.
Ein schönes Fest im Kreise der Lieben (also ohne mich) wünscht Dir
Dein "großer" Bruder Paul"
30.11.42
"Lieber Bruder!
Zu Deinem letzten Weihnachtsfeste vor Deiner militärischen Karriere wünsche ich Dir alles Gute und viel Freude. Im nächsten Jahr feierst Du sicher das Fest außerhalb der Familie, genieße darum noch einmal das Schöne und ewig Wunderbare eines Weihnachten im Kreise der Familie. Mir liegt jede Sentimentalität fern, obwohl man mir das gerne nachsagt, aber das kann keiner leugnen: Erinnere Dich doch noch all der schönen Heimlichkeiten, Vorfreuden und Überraschungen der Heiligabende der letzten Jahre! Wie wunderschön und feierlich hatten es die Eltern immer gemacht, es hatte bestimmt keiner so gut wie wir!
Das vergangene Jahr war für Dich, das musst Du zugeben, kein arbeitsreiches gewesen, vor allem hast Du Dich in der Schule nicht übermäßig anzustrengen brauchen. Du hast Ferien gehabt und Reisen gemacht, hast zwar im Büro geholfen, aber Du warst doch im Großen und Ganzen Dein freier Herr, die meiste Zeit ohne Geschwister, die ja bekanntlich zu allem Knüppel zwischen die Beine werfen. Das Leben führt leicht zu Ausschreitungen, die den Eltern Sorgen machen.
Welch anderes Leben steht Dir nun bevor. So wie Du hatte ich vor meiner Dienstzeit noch bestimmte Ideale und dank jener fällt einem sehr vieles leichter. Aber Du wirst ganz bestimmt mit Sehnsucht an jene Zeit zurückdenken, wo Du noch differenzieren oder Vokabeln lernen durftest, wenn Du schweiß- und schlammbedeckt mit müden Knochen keuchend und mit heraushängender Zunge am Boden liegst.
Nimm zu Deiner kommenden Soldatenzeit eins mit: Humor und viel Geduld! Nochmals fröhliche Weihnachten wünschend und eine fröhliche Komisszeit, verbleibe ich der, mit dem Du fast immer im Streit warst, und mit dem Du Dich oft verkloppt hast,
Dein Bruder Paul"
Russland, 19.12.42
"Ihr Lieben!
Recht böse werdet Ihr wegen meines spärlichen Schreibens, gerade um die Weihnachtszeit müsst Ihr so wenig Post bekommen. Aber bewerft mich nicht gleich mit Schimpfwörtern übelster Sorte, es war nicht meine Schuld.
Mir geht es, Gott sei Dank, noch ganz prima, was man hier prima nennen kann. Iwan lässt uns jetzt so ziemlich in Ruhe, aber über die jetzige Zeit werde ich später viel zu erzählen haben.
In ein paar Tagen ist Weihnachten und ich muss immer daran denken, dass wir dieses Mal eigentlich zusammen feiern sollten. Aber....Wir sind feste dran, unseren Bunker feierlich auszustalten und man kann mit primitiven Mitteln ganz nette Wirkungen erzielen, Nur ein Weihnachtsbaum macht mir noch viel Kopfzerbrechen. Sicher müssen wir mit unserem stilisierten Adventskranz vorliebnehmen.
Hier ist es nach kurzer Tauperiode wieder arg kalt geworden und es liegt tiefer Schnee. Die Kältegrade sind noch nicht so schlimm, aber das dicke Ende kommt in ein paar Wochen.
Anbei ein paar Luftfeldpostmarken und eine Päckchenmarke. Zum letzten ein kleiner Wunsch, aber bitte nicht lachen! Ginge es, per Post etwas Mostrich und ein paar Gewürze zu schicken? Wir brotzeln oft und viel selbst und Senf habe ich seit Deutschland nicht mehr gesehen!
Zum Fest hat unsere Kompanie eine kleine Zeitung in Angriff genommen, dazu hat man mich natürlich wieder engagiert. Unser Trupp hat sich das erste Mal selbst Brot gebacken und es ist besser geworden als das Komissbrot. Ich mach Euch das später mal vor! Kennt Ihr übrigens Raderkuchen, kennt Ihr Klietenmus? Die Finger werdet Ihr Euch danach lecken, wenn Ihr hier mal mitessen würdet!
Alles Gute und viele Grüße sende ich Euch und bin Euer
Paul"
(Anmerkung: Langsam hörte die regelmäßige Verpflegung auf und die Soldaten mussten sich auf eigene Faust ernähren.)
Heiligabend, 1942 in Russland
"Meine lieben Eltern, liebe Geschwister!
Noch ganz im Zauber dieses meines ersten Front Weihnachtsfestes haben wir als Abschluss unsere kleinen, aber doch so ergreifenden Feier uns hingesetzt für ein paar Minuten, um Euch daheim ein paar Zeilen zu schreiben.
Zu dritt haben wir gefeiert, wenn wir auch keine Tanne hatten, so aber ein schönes besinnliches und doch fröhliches Weihnachten gefeiert. Unsere Teller waren voll, voller als unser Magen jetzt, der mit vielen Süßigkeiten, Keksen, Knäckebrot, vermengt mit einem steifen Grog nebst Bohnenkaffee überfüllt ist.
Ein paar nette Überraschungen erlebten wir, über die ich im nächsten Brief berichten werde. Ein Erlebnis besonderer Art war auch die Weihnachts-Ringsendung, die Ihr sicher auch gehört habt. Ein Soldat, nicht weit von uns, sprach darin und ich bin gewiss, dass in diesem Augenblick unsere Gedanken nahe beieinander waren.
Ich hoffe, dass Ihr das Fest alle beieinander in alter Fröhlichkeit und guter Gesundheit verbracht habt. Hoffnungsfroh wie immer habt Ihr inzwischen das Neue Jahr angetreten, das möglichst früh den Wunsch des Wiedersehens erfüllen soll.
Aus bestimmten Gründen war ich in diesen Tagen ohne die ersehnte Weihnachtspost, kleinen und größeren Formats, Um so größer ist die Vorfreude und das Erwarten. Hoffentlich kommt sie bald und dann wird noch mal Weihnachten gefeiert, Weihnachten in Raten, auch nicht schlecht!
Die größte Sorge war mir aber die Tatsache, dass Ihr ausgerechnet in dieser Zeit so wenig Post von mir bekommen musstet.
Ich grüße Euch alle, Vater, Mutter, Rosel und Eberhard und weiß Euch in diesen Stunden nahe bei mir, nichtachtend der Tausenden von Kilometern räumlicher Trennung.
Lebt wohl und Auf Wiedersehen!
Paul"
(Anmerkung: Um Weihnachten und Neujahr 1942/43 war es im Norden des Kessels von Stalingrad einige Tage relativ ruhig. Viele Briefe wurden noch geschrieben. Jammerbriefe waren aber verboten, es wurden Stichproben gemacht.)
Zwischen Weihnachten und Neujahr 42/43
"Liebe Eltern!
Er hat genug erlebt! Er geht! Man wird noch lange von ihm erzählen und doch wird er vergessen werden. Er hatte schöne und bange Tage, brachte Überraschungen und Freude, aber auch Entbehrungen und Sorgen. Grau und gebeugt verlässt er uns, mahnend hebt er noch die Hand, während unbekümmert und strahlender Laune das Neue Jahr anbricht. Hoffnungsvoll tritt es auf, 1942 geht ab. Was wird kommen?
Ich glaube aber, Ihr könnt unbesorgt sein. Sicher wird endlich das kommen, was das alte noch erleben sollte. Und es wird kommen!
Mir hat es so leid getan, dass ich blinden Alarm geben musste, aber der Urlaub stand für mich fest wie Balve! Mit Spannung erwarte ich Eure Post mit dem Verlauf der Feiertage, hoffentlich in allen Einzelheiten!
Nun gehen wir ins Neue Jahr und in diesem wünsche ich Euch alles Gute und Schöne, eine nette Wohnung, viel Glück und Freude. Wird es uns das bringen, auf das wir alle warten? Oder wird der Endsieg erst 1944 kommen? Kommen wird er und dann komme ich auch wieder und werde meine hingelegte Arbeit wieder aufnehmen und eins wissen: Was Leben heißt und wieviel tausendmal schöner es ist.
Liebe Eltern: Auf Wiedersehen!
Euer Sohn Paul"
Zwischen Weihnachten und Neujahr 42/43
"Liebe Geschwister!
Wieder eine Stufe höher! Wieder ein neues Jahr! Mit einem sehnsuchtsvollen Augen Blick schaut man dann üblicherweise noch einmal zurück auf das vergangene, Rosel auf ihre Maidenzeit, (ach so schnell verflossen!) und Eberhard auf eine schöne, arbeitsruhige, (um nicht faule zu sagen) Nesthäkchenzeit. Mit dem anderen Auge lünzt Rosel in die Zukunft, (bei ihr rosig, wie immer) und sieht sich in ihrem freien ungebundenen Studentendasein, und Brüderchen, mit selbstsicherer Miene, übersieht vor lauter Susis das Abitur und die Rekrutenzeit. Eberhard, ich sehe schwarz!
Für das kommende Jahr habe ich nun einen kleinen Wunsch: Ich lese hier dank sorgsam ausgestatteter Frontbücherei durch die Heimat ab und zu eine Novelle, eine bekannte Erzählung usf. Sicher habt Ihr dieselben auch gelesen, seid ja auch, (in dieser Beziehung natürlich nur!) weitaus gebildeter als ich und ich möchte gern Eure Gedankengänge beim Lesen der einzelnen Romane, usw. mit meinen vergleichen, bzw. wäre es schön, wenn Ihr das auch tätet. Erzählt mir bitte deshalb, wenn Ihr Zeit habt, über aufgetretene Probleme, Ideen, Gedanken und Meinungen und ich tue das auch. Im nächsten Brief fange ich damit an! Jeder hat Nutzen und Freude daran. Macht Ihr mit?
Ein kleines Büchlein ist hier so wertvoll wie ein Brief aus der Heimat, man hungert danach! Bisher habe ich so etwas noch nie gekannt!
Alles Schöne und Gute, wenig Müh und Sorgen und viel Fröhlichkeit wünsche ich Euch zum Neuen Jahr Prost Neujahr!
Paul"
Russland. 29.12.1942
"Ihr Lieben!
Nun sind die Weihnachtsfeiertage vorüber und es ist so eigentlich die Zeit, wo man üblicherweise und auch erklärlicherweise magenkrank zu Bett lag, zumindest ein bauchwehes Dasein führte. Ich sagte "eigentlich", also ist es bei mir nicht so und das sollte doch gut sein!
Wenn aber mal die Post kommt, werde ich alles nachholen! Mir geht es nicht schlecht, also braucht Ihr Euch keine Sorgen zu machen. Von Euch hoffe ich das Gleiche. Ich wünsche Euch zwar kein Bauchweh, aber die leckeren Ursachen dazu.
Zur Weihnachtsfeier haben wir den Bunker festlich auszustatten versucht, sogar einen tannenartigen Zweig habe ich gefunden, etwas primitiv mit Pappfiguren behangen, - und Hokuspokus, man hat einen Weihnachtsbaum! Lichter sind zwar nicht dran, aber dafür brannte der Adventskranz, der übrigens aus Gewehrreinigungsdochten, Gasplanen und Draht gefertigt wurde."
Neujahr 1943
"Bis heute hat der Brief gelegen, ohne Beförderungsmöglichkeit. Morgen soll er fortgehen können. Ich habe das Jahr gut angefangen und heute Morgen auf Euer Wohl getrunken! Der Rundfunk war der Mittler unserer Wünsche und Hoffnungen.
Ich sah Euch wie jedes Jahr fröhlich beisammen, wenn auch gewiss etwas ernster als vor dem Krieg.
Heute Morgen ist unser Chef Hauptmann geworden und war strahlender Laune mit seinen 24 Lenzen. Er ging die Trupps durch und wünschte alles Gute zum Neuen Jahr. Hoffentlich bekomme ich bald Post von Euch. Die letzte erhielt ich vor 5 Wochen! Das war ein Luftfeldpostbrief von Eberhard. Ich weiß, dass Ihr fleißig geschrieben habt und weiß auch, dass Ihr nicht ungeduldig werdet, wenn ich mich nicht dafür bedanken kann. Einmal wird die Post kommen und auf den Tag freue ich mich schon seit langem!
Ich bin gesund und munter wie immer, seid so sorglos wie vordem, es ist kein Grund zu finsterer Miene vorhanden, soyez sans soucis!
Heil, euch, liebe Eltern und Geschwister und denkt daran: Bevor die Bäume wieder grün werden, bin ich bei euch!
Euer Paul"
Pauls letzter Brief
Per Luftpost
Russland, 5.1.1943
"Ihr Lieben!
Leider habe ich noch immer keine Post von Euch bekommen, ich kann also nichts beantworten und hoffe, dass es Euch recht gut geht, dass Ihr genug zu essen habt und gesund seid. Die Briefe und Päckchen werden sicher bald kommen, dann atme ich wieder auf. Anbei schicke ich Euch eine Menge Luftfeldpostmarken, benutzt sie sehr fleißig, am besten ausschließlich, dann werde ich bestimmt von Euch hören.
Sorgen braucht Ihr euch wegen mir bestimmt keine zu machen, es geht mir weiterhin nicht schlecht und in Bälde sicher noch besser.
Hoffentlich habt Ihr jetzt etwas mehr Post in den letzten Tagen von mir erhalten. Es wird jetzt von Woche zu Woche kälter, doch bald wird die kälteste Zeit erreicht und auch überwunden sein. Mit meiner von Euch erhaltenen Polarausrüstung komme ich leicht durch den gefürchteten Russlandwinter durch. Gestern war noch Tauwetter, heute Nacht haben wir mehr als 20 Grad unter Null, das geht hier manchmal sehr ulkig. In wenigen Minuten kann alles verschneit sein und wenn es um 11 Uhr noch stürmte und tobte, als wären alle Geister losgelassen, kann um 12 Uhr über der gesamten Steppe Kirchhofstille eingetreten sein und kein Lüftlein regt sich.
Am unangenehmsten ist der Wind, der feinste Eiskristalle mitführt, die wie Staub in alle Poren dringen und leicht Erfrierungen verursachen. Am unhöflichsten ist er während der Fahrt, denn unsere Karre ist keine Limousine. Gott sei Dank habe ich Filzstiefel und die sind ganz prima. Mein Strumpfmaterial ist ausreichend und noch recht gut.
Sonst habe ich Euch heute nichts zu berichten, was erwähnenswert wäre, selbst das, was ich verschweigen muss, ist nichts Nennenswertes. Seid froh und guter Dinge, so wie ich, hört nicht auf Gerüchte, zum Sorgenmachen ist kein Grund und dass ich keine Post habe, ist Zufall, denn andere haben Nachricht von zu Hause. Schreibt Luftpost und seid vielmals gegrüßt von Eurem
Paul".
Eberhard erhielt noch immer Post von seinem älteren Bruder, der in Stalingrad bereits vermisst ist. Am 20. Januar 1943 schrieb er an seine Schwester:
"Die Briefe steigen ständig im Wert, wo es doch so bitterernst um Stalingrad steht. Die deutschen Stellungen, die um die Stadt gezogen waren, mussten, laut gestriger Zeitung, um wieder mehrere Kilometer zurückverlegt werden; und heute sprechen sie sogar von der Einnahme des letzten deutschen Flughafens in diesem Kessel. - Pauls Briefe sind noch sehr froh gehalten, da die Schlacht erst richtig am 10.-11. Januar begann. Der neueste Brief ist vom 5.1.43."
Briefquellen:
Feldpost-Archiv Berlin, mit vielfacher freundlicher Unterstützung von Frau Dr. Katrin Kilian, Institut für Sprache und Kommunikation der TU Berlin