Ich weiß noch genau, wie heiß es in den Tagen vor dem Finale war. Unwahrscheinlich heiß. Selbst am Morgen vor dem Endspiel. Hitze war nichts für mich. Ich war Soldat auf Elba und Sardinien. Und bis 1948 litt ich an Malaria.
Es war kurz nach dem Mittagessen, als der Max Morlock auf mich zugestürzt kam und rief: »Fritz, Fritz, schau mal raus: Es regnet.« Später, als wir mit dem Bus von unserem Quartier in Spiez nach Bern fuhren, saß ich neben dem Chef, Sepp Herberger. Es war ziemlich ruhig. Kaum jemand von uns sprach. Der Regen pladderte gegen die Scheiben. So heftig, daß der Fahrer die Scheibenwischer auf doppelte Geschwindigkeit umstellen mußte. Herberger legte mir irgendwann die Hand aufs Knie und schaute mich an. Und dann fiel dieser Satz, der Geschichte ist: »Fritz, das ist Ihr Wetter.«
Der Rest ist Legende. Wir besiegten die Ungarn, diese Übermannschaft, mit 3:2. Und das Danach erlebten wir in Trance. So wie die Millionen am Radio oder vor den Fernsehschirmen. Es dauerte Stunden, bis wir ganz langsam verstanden, was dort unten auf dem Rasen des Wankdorfstadions passiert war: Weltmeister Deutschland. Neun Jahre nach Kriegsende.
Abends beim Bankett im Hotel saßen wir dann zusammen und nippten an Wein und Bier. Es wurden Telegramme verlesen. Adenauer gratulierte natürlich. Und andere. Aber die Stimmung wirkte merkwürdig verhalten, bis Herberger sagte: »Männer, ihr sitzt grad da, als hätten wir verloren.«
Ich weiß nicht, ob wir mit unserem Sieg Deutschland verändert haben. Die Gefühle der Menschen jedenfalls ließen nur einen Schluß zu: Die Deutschen fühlten wieder so etwas wie Stolz, und dieses berühmte »Wir sind wieder wer«. Als wir in München im Autokorso durch die Stadt fuhren, warfen die Menschen mit Blumen und spritzten mit Sekt. Wir repräsentierten plötzlich ein anderes Gesicht Deutschlands. Ein freundliches und faires. Genau das verlangte der Chef von uns. Wo immer wir auch hinfuhren und spielten - Herberger sagte stets: »Denkt daran, daß ihr nicht nur den deutschen Fußball innerhalb und außerhalb des Rasens darstellt. Sondern auch Deutschland.«
Wir fühlten uns trotzdem nicht als Botschafter in irgendeinem politischen Sinne. Andererseits: Unsere Erfolge schadeten der Außenwirkung der jungen Demokratie ganz bestimmt nicht - noch vor Adenauers Kreml-Besuch spielten wir 1955 in Moskau. Und ein Jahr später wurde die Mannschaft in Gegenwart von Außenminister Heinrich von Brentano vom Papst empfangen. Politik insgesamt aber interessierte uns nur am Rande. Wir waren Sportler. Und wir wurden von unseren Gegnern als Sportler behandelt. Unsere Sprache war der Ball. Und diese Sprache war und ist international.
Auch unser Leben veränderte sich nicht dramatisch. Wir bekamen damals im Schnitt 2000 Mark für den WM-Titel. Dazu einen AEG-Kühlschrank, einen Fernseher und einen Motorroller. Es mag heute lächerlich klingen, aber das Geld spielte für uns keine Rolle. Ich dachte, daß zumindest vor dem Endspiel der Hans Schäfer von der Mannschaft zu mir als Kapitän geschickt würde, um sich nach einer Prämie zu erkundigen. Aber Hans kam nicht, und also ging ich nicht zum Chef, und der Chef ging nicht zum DFB-Präsidenten Peco Bauwens. Der rätselte erst montags morgens: »Was sollen wir den Spielern eigentlich geben?«
Keiner von uns wurde so richtig reich durch den Fußball. Der Werner Liebrich beispielsweise, mein Vereinskollege beim 1. FC Kaiserslautern, arbeitete bei der Post. Der stempelte Briefmarken bis mittags, danach kletterte er den Betzenberg hinauf und spielte für den FCK. Und auch mir und meiner Frau Italia wurde nichts geschenkt. Wirklich nichts. Wir eröffneten ein Kino, und an den Ruhetagen kam ich vom Training und fegte den Saal.
Goldene 50er? Das waren vor allem arbeitsreiche Jahre. Für alle Deutschen. Und selbst für Fußballweltmeister, die von den Menschen »die Helden von Bern« genannt wurden und werden. Aber es waren zugleich erfüllte und überaus glückliche Jahre. Sie prägten uns. Und vielleicht prägte dieser 4. Juli 1954 auch Deutschland.
Ich bin immer wieder überrascht, welche Strahlkraft dieses Spiel noch heute ausübt. Da ist dieser Ohrwurm, die legendäre Radioreportage von Herbert Zimmermann. Diese Stimme, die sich überschlug. »Jetzt hat Fritz Walter den Ball ins Aus geschlagen. Wer will ihm das verdenken? Aus, aus, aus. Deutschland ist Weltmeister.«
Zimmermann hatte noch vor uns begriffen, was das bedeutete.
FRITZ WALTER