Max Weber, der große Soziologe, hat einst die wichtigsten Qualitäten eines Politikers benannt. Sachliche Leidenschaft benötige dieser, so Weber, zudem Verantwortungsgefühl und ein distanziertes Augenmaß.
Eine vierte wichtige Eigenschaft hat Weber unterschlagen, er konnte sie wohl schlicht nicht vorhersehen, als er 1919 über die "Politik als Beruf" nachdachte: Leidensfähigkeit. Etwas weniger wissenschaftlich formuliert: Ein Parteipolitiker, auch eine Parteipolitikerin, muss heute jeden Tag bereit sein, sich ordentlich in die Fresse hauen zu lassen, zumindest verbal.
Hören Sie sich doch einfach mal um, in Zügen, in Restaurants, im Freundeskreis: "Politiker" sind in den meisten Gesprächen geradezu Lumpenvolk, Parteien beinahe kriminelle Vereinigungen. Robert Habeck, ein Kinderbuchautor! Annalena Baerbock, eine Abschreiberin! Ricarda Lang, die Übergewichtige, die – ausgerechnet – anderen das fettige Essen verbieten will! Olaf Scholz, der Serienlügner! Christian Lindner, der Porsche-Poser!
Ganz links formiert sich gerade eine Bewegung, ganz rechts eine vermeintliche Alternative, immer in Abgrenzung zu diesen "Parteien", die so dumm und unfähig seien. Ähnliches ist von führenden Wirtschaftsvertretern zu hören. Die tun gerade so, als seien alle Politiker begriffsstutzige Praktikanten und Deutschland doch leicht per Powerpoint-Präsentation zu regieren.
Wir müssen diskutieren, streiten, uns einsetzen
Manche Kritik ist berechtigt. Die aktuelle Regierung macht ungeheuer viel falsch, sie zerfetzt sich zudem gegenseitig in einer Preisklasse, dass die Teilnehmer des Dschungelcamps "im Vergleich eine verschworene Wertegemeinschaft" seien, wie der "Spiegel" beobachtet hat. Es ist auch durchaus erfrischend, über Alternativen zum Parteienstaat nachzudenken, über neue Wege der Beteiligung. Und es ist fantastisch, dass die Bürger nun selbst auf die Straße gehen, um für unsere Demokratie zu kämpfen, dass Prominente aus vielen Bereichen der Gesellschaft aufstehen und angesichts der Gefahr durch rechtspopulistische Parteien sagen: Nicht mit uns!
Aber müssen wir deswegen gleich so tun, als sei Politik generell etwas Schmutziges – oder angeekelt aufheulen, wenn Parteipolitiker gegen den Rechtsextremismus mitmarschieren wollen? Wir werden unsere Demokratie nicht per Wochenenddemo verteidigen können. Wir müssen dafür jeden Tag diskutieren, streiten, uns einsetzen, Politik als Berufung eben. Viele, die nun zusammen gegen Extreme demonstrieren, liegen selbst extrem weit auseinander, wie politisch mit den Themen Migration, Energie oder Steuern umzugehen wäre. Diese Meinungen zu kanalisieren, Lösungen und Kompromisse zu finden, dafür braucht es Parteien und Parteipolitiker. Dafür braucht es die Ortsverbände und jene oft irrsinnig langweiligen Gremiensitzungen, über die wir uns alle so gern lustig machen. Und dafür braucht es auch Menschen, die sich am Wochenende einfach mal auf den Marktplatz stellen und den Leuten zuhören.
Wir sollten froh sein, dass es bei uns noch gefestigte Parteien gibt, anders als in anderen Ländern, wo diese längst zerbröselt sind. Und anders auch als in der Weimarer Republik, zu der nun oft Vergleiche gezogen werden. Wir sollten berechtigte Kritik von Beschimpfung abgrenzen und notwendige Debatten von Polemik. Auch, weil sich sonst irgendwann ganz andere Fragen stellen werden, etwa: Wer geht dann noch in die Politik, in die Parteien? Und bekommen wir dann nicht die Politik und die Politiker, die wir verdienen?