Das war er also, der Moment, nach dem viele lange gefragt haben: Wann gehen die Leute endlich gegen die AfD auf die Straße? Mehr als eine Million Menschen waren es, die nach den Recherchen des Correctiv-Teams verstanden haben: Soll unsere Demokratie funktionieren, braucht sie Demokratinnen und Demokraten, die für sie einstehen.
Ich hatte als Reaktion auf meine letzte stern-Kolumne "Wir sind die Brandmauer" einen Shitstorm erwartet – und bekam stattdessen einen Lovestorm. Leserinnen und Leser schrieben mir, dass sie zum ersten Mal zu einer Demo gegangen seien, dass ich sie mit meinen Worten bekommen hätte, dass sie nun im Bekanntenkreis gegen den Populismus anredeten, in eine Partei einträten.
Da will ich mal pathetisch sein dürfen: Das hat mich berührt. Weil das Wort noch bewegen kann und die angeblich schweigende Mehrheit zum Glück doch nicht schweigt und doch nicht heimlich nickt. Sie schien eher lange davon auszugehen, die Dinge renkten sich von selbst ein. Das tun sie nicht, dafür sind die rechtsextremen und antidemokratischen Bewegungen zu internationalisiert, zu vernetzt, zu strategisch und zu entschlossen.
Völkisches Gedankengut könnte wieder eine reale Machtoption haben
Schweigen und nicken ist ohnehin eine Unart, das wurde mir wieder klar, als ich Sandra Hüllers neuen Film "The Zone of Interest" vorab sehen konnte. Hüller spielt darin die Frau eines Nazis, obwohl sie mal gesagt hat, nie so eine Figur spielen zu wollen, weil die Nazis im Kino immer verherrlicht würden. In diesem Film werden sie nicht verherrlicht, sie werden als die jämmerlichen entmenschlichten Wesen dargestellt, die sie gewesen sein müssen. Eine vermeintlich normale deutsche Familie in der abnormalen Nazizeit, wie sie sich direkt vor einem Konzentrationslager den Traum vom Vorstadthäuschen erfüllt. Der Familienvater geht jeden Tag ins Lager, den Massenmord organisieren. Hüllers Figur spaltet komplett ab, wie sehr der Wohlstand der Familie auf dem Mord an Juden beruht. Selten wurde das Grauen so spürbar gemacht wie am Schluss des Films, als ihren Mann, frisch befördert in der Hierarchie der Massenmörder, für einen Moment der Brechreiz überfällt. Aber kurz darauf überwiegt sein Stolz, aufsteigen zu dürfen im Hitlerreich.
Auch mir wurde fast schlecht. Ich denke zuerst, die Übelkeit kommt von dem verstörenden Gedanken, dass Nazis zärtliche Väter gewesen seien. Aber sie rührt eigentlich daher, dass ich zum ersten Mal so einen Film nicht rein historisch sehe, sondern in dem Bewusstsein, dass völkisches Gedankengut wieder eine reale Machtoption haben könnte. Nach dem Filmende saß ich da mit einem Gefühl, das mich noch tagelang nicht loslassen wollte.
Irgendwer muss diese Wähler für die Demokratie zurückgewinnen
Zu den guten Nachrichten gehört – neben den Hunderttausenden auf den Straßen deutscher Städte –, dass selbst Marine Le Pen der AfD nach Bekanntwerden der Potsdamer Pläne damit droht, die Kooperation auf EU-Ebene zu beenden, weil ihr "Fantasien von Rückführung zu radikal sind". Weniger gut ist, dass die AfD in den Umfragen nur wenig einbüßt, was leider zeigt, dass jene recht behalten, die betonen, die AfD werde nicht trotz ihres Programms gewählt, sondern genau wegen dieses Programms. Irgendwer muss diese Wähler für die Demokratie zurückgewinnen.

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Die Selbstvergewisserung auf den Straßen war ein wichtiger Moment. Ich denke, dass er nur dann nachhallt, wenn jetzt klare politische Ziele formuliert werden. Sonst verpufft das leider alles.
Gegen Rechtsextremismus. Und wofür?