Bundestagswahl Der Bammel über Berlin: Wie bitter wird die Nachhol-Wahl am Sonntag für die Ampel?

Collage zeigt Olaf Scholz Christian Lindner und Robert Habek im Portrait auf einem Bild einer Berliner Stadtszene
Nur Verluste? Olaf Scholz, Christian Lindner und Robert Habeck blicken eher düster auf den Wahltag
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In der Hauptstadt ist schon wieder Bundestagswahl. Die Umstände sind kurios. Es könnte der Auftakt einer Niederlagenserie für Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner sein.

Wer sich für ein Leben in Berlin entscheidet, muss auf viel verzichten. Auf günstige Mieten etwa, auf sichere Radwege und auf Sonne im Winter. Wer sich für ein Leben in Berlin entscheidet, bekommt dafür Dinge geboten, die im Rest der Republik selten sind. Mit ein bisschen Glück darf man zum Beispiel öfter wählen als anderswo.

Ein Jahr erst ist es her, Anfang 2023, da war in Berlin Abgeordnetenhauswahl. Und jetzt, Anfang 2024, ist in der Hauptstadt schon wieder Bundestagswahl. Ja, richtig gelesen. Am kommenden Sonntag, am 11. Februar, sind rund 550.000 Berlinerinnen und Berliner aufgerufen, ihre zwei Stimmen für den Bundestag abzugeben.

Nein, das ist kein Testlauf, damit die Verwaltung nicht aus der Übung kommt. Das ist der Ernstfall, eine echte Wahl. Und sie wird Folgen haben, für den Kanzler und für seine Ampelkoalition.

Wo das Chaos besonders groß war, wird die Bundestagswahl nun in Berlin wiederholt

Die Berliner Wiederholung ist der Start in ein Jahr voller wichtiger Wahlen, im Juni Europa, im Herbst der Osten. Sie ist der erste Stimmungstest für die Bundesregierung nach drei Monaten Haushaltschaos. Und sie könnte für SPD, Grüne und FDP zum Auftakt einer Serie von Niederlagen werden. Der Bammel ist entsprechend groß.

Moment mal, mögen aufmerksame Leser einwerfen, Bundestagswahl? Die Wahlperiode endet doch erst im Herbst 2025. Das ist korrekt. In Berlin aber muss die Wahl von 2021 teilweise wiederholt werden. Damals fanden Bundestags-, Abgeordnetenhaus- und Bezirkswahlen am selben Tag statt wie der Marathon. In etlichen Wahllokalen gab es nicht ausreichend Stimmzettel. Nachschub kam nicht rechtzeitig durch die gesperrte Stadt, mancherorts wurde bis weit nach 18 Uhr gewählt.

Dort, wo das Chaos besonders groß war, wird die Wahl nun wiederholt. So hat es das Bundesverfassungsgericht entschieden. Jeder fünfte Wahlberechtigte darf noch mal an die Urne. Auf ganz Deutschland gerechnet bedeutet das: nicht mal einer von hundert. Entsprechend klein sind die zählbaren Auswirkungen. An der Zusammensetzung des Bundestags wird sich nicht viel ändern. Die AfD wird nicht von heute auf morgen viel stärker. Die Mehrheit ist der Ampel sicher. Trotzdem können sich Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner nicht auf einen ruhigen Sonntag freuen. Das wird unangenehm, befürchten viele in der Koalition. Auch eine kleine Katastrophe prägt die Stimmung, lenkt die Debatte, sorgt für neuen Streit. Da können die Umstände der Wahl noch so kurios sein. Und das sind sie wirklich.

Die CDU hat sich bundesweit unter Friedrich Merz berappelt

Ottilie Klein, 39, hat ein Café unweit vom Brandenburger Tor als Treffpunkt vorgeschlagen. Ihr Büro ist direkt nebenan; seit 2021 sitzt sie für die CDU im Bundestag. Klein hustet zur Begrüßung. Zu viel Wahlkampf in der Kälte, entschuldigt sie sich. Sie gehört zu den Abgeordneten, die ihr Mandat bei der Wiederholungswahl verlieren könnten. Aber darüber möchte Klein lieber nicht sprechen. Sie gibt sich zuversichtlich. "Auf der Straße und an den Haustüren spüre ich eine große Wahlbereitschaft."

Ottilie Klein mit Plakat
Vorfreude bei der Berliner CDU: Generalsekretärin Ottilie Klein hofft auf einen "Denkzettel für die Ampel"
© picture alliance/dpa

Kleins gute Laune erklärt sich leicht damit, dass sie seit einem knappen halben Jahr Generalsekretärin der Berliner CDU ist. In dieser Funktion hätte ihr wenig Besseres passieren können als gleich der nächste Wahlkampf. Schließlich sind die Umfragewerte der Ampel konstant mies bis sehr mies. Die CDU hingegen hat sich bundesweit unter Friedrich Merz berappelt. In Berlin regiert sie so geräuschlos mit der SPD, dass es eine junge Liebe zwischen dem Regierenden Bürgermeister und seiner Bildungssenatorin brauchte, um mal wieder in die Schlagzeilen zu geraten.

Die Lage für die Berliner CDU könnte hervorragender kaum sein. Entsprechend hoch sind die Ansprüche. "Wir wollen, dass diese Wahl der Anfang vom Ende der Ampel wird", sagt Klein. Viele Berliner hätten nun die unverhoffte Chance, die Bundesregierung mitten in der Wahlperiode zu bewerten. "Sie können der Ampel ein Zwischenzeugnis ausstellen."

Die Union war gut vorbereitet. So eine Chance wollen die Christdemokraten auf keinen Fall vermasseln. Am Dienstag vor Weihnachten, nur wenige Stunden nachdem das Gericht die Wiederholungswahl verkündet hatte, stand Klein neben CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann im Konrad-Adenauer-Haus und stellte die Kampagne vor:

Berlin, niemand ist gefragter als Du.

Zeig der Ampel das Stopp-Zeichen!

Der Ampel einen Denkzettel verpassen.

Einfache Botschaften, konsequentes Duzen – ob sich das bürgerliche Lager so mobilisieren lässt? Genau das muss Klein und ihrer CDU gelingen, wenn die Ampel-Klatsche sitzen soll: möglichst viele Menschen für eine Wahl zu motivieren, von deren Existenz sie gerade erst erfahren haben.

Bundestagswahl in Berlin: Jede Stimme zählt – wortwörtlich

Es sind nicht unbedingt die Hochburgen der CDU, in denen die Wahl nun wiederholt wird. Rechnet man alle betroffenen Stimmbezirke zusammen, kam die Union dort 2021 auf 13,7 Prozent. Das sollte angesichts der guten Umfragen leicht zu toppen sein. Mehr Prozente sind bei dieser Wahl allerdings nicht gleich mehr Sitze. Jede Stimme zählt – wortwörtlich.

Etwa 58.000 Menschen haben in den Chaos-Wahlbezirken für die CDU gestimmt. Die absolute Zahl ist in diesem Fall wichtig. Weil der Bundestag größer ist als die regulären 598 Sitze, entscheiden die Wiederholungs-Zweitstimmen nun nur über die Verteilung von Ausgleichsmandaten. Und weil die Ergebnisse in allen anderen Ländern feststehen, lässt sich genau sagen, wie viele Stimmen jede Partei braucht, um einen Sitz zu behalten – oder zu verlieren. Gehen in Berlin zu wenige zur Wahl, profitieren andere Landesverbände.

Was das konkret bedeutet, lässt sich gut am Beispiel von Ottilie Klein durchrechnen, die über die Berliner Landesliste gewählt wurde. Verliert die CDU im Vergleich zu 2021 etwas mehr als 11.000 Stimmen, ist sie raus. Verliert die CDU zwischen 3700 und 11.000 Stimmen, bleibt Klein drin, aber ihr Fraktionskollege Jürgen Hardt aus NRW ist raus. Verliert oder gewinnt die CDU nicht allzu viel, bleiben beide drin. Gewinnt die CDU aber zwischen 50.477 und 54.195 Stimmen dazu, rückt ein weiterer Kandidat von der Berliner Landesliste nach. Und Hardt wäre wieder draußen.

Die Kuriositäten der Wiederholungswahl

Verwirrt? Mit den Eigenheiten der Wiederholungswahl verhält es sich wie mit den Regeln von Cricket: Wenn man gerade glaubt, die Spielzüge zu verstehen, merkt man, nicht einmal die Hälfte aller Eventualitäten bedacht zu haben.

Die Kuriositäten sind schneller erzählt: Auf Platz fünf der Landesliste der AfD steht eine Frau auf dem Wahlzettel, die inzwischen wegen Terrorverdachts in Untersuchungshaft sitzt. In Charlottenburg-Wilmersdorf muss ein SPD-Mann um sein Direktmandat kämpfen, der 2021 als Regierender Bürgermeister das Wahl-Schlamassel zu verantworten hatte: Michael Müller. Späte Gerechtigkeit verhindert nur sein sicherer Listenplatz.

Während mancherorts lediglich einzelne Wahllokale betroffen sind, dürfen in Pankow 86 Prozent der Stimmberechtigten wieder ran. Dort, im Norden von Berlin, hat 2021 fast jeder zweite SPD oder Grüne gewählt. Beide Ampelparteien brauchen jede Stimme, damit Berliner Sitze nicht an andere Landesverbände – oder ganz verloren gehen. Doch bei so viel Ampel-Frust in der Bevölkerung besteht die Gefahr: Wer zu viel mobilisiert, mobilisiert auch die Falschen. Je höher die Wahlbeteiligung, umso sicherer die eigenen Sitze. Je höher die Wahlbeteiligung, desto wahrscheinlicher die Klatsche.

Nina Stahr, 41, Grüne, sitzt wie Klein seit 2021 im Bundestag. Und auch sie könnte ihr Mandat wieder verlieren. Damit das nicht passiert, ist sie jetzt viel unterwegs. Infostände, Veranstaltungen, Haustürwahlkampf. Manche fragten schon, sagt Stahr, warum jetzt noch mal gewählt werde. "Aber die Leute wissen in jedem Fall, ob sie wählen dürfen oder nicht." Sie müsse erklären, warum es wichtig ist, wählen zu gehen. Der Wahlkampf sei nicht so polarisiert wie der vorherige, sagt Stahr. "Die Leute sind freundlicher, selbst wenn sie uns sagen, dass die Grünen nicht ihre Partei sind. Sie sagen dann: Ich wähle euch nicht, aber es ist trotzdem gut, dass es euch gibt."

Nina Stahr
Nina Stahr (in bordeauxroter Jacke), hier nach ihrer Wahl zur Grünen-Chefin in Berlin, muss um ihr Bundestagsmandat kämpfen
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Für die Ampel sind das keine guten Nachrichten. Für die Demokratie schon eher. Es ist auch die erste Wahl nach den Demos gegen Rechtsextremismus. Auch in dieser Hinsicht ein Stimmungstest: Überträgt sich die Wucht der Straße auf die Wahlkabine?

Besonders aufmerksam verfolgt wird die Wahl im Landkreis Celle in Niedersachsen. Dort ist Angela Hohmann, 60, Fraktionschefin der SPD im Kreistag. Fast wäre Hohmann 2021 in den Bundestag gekommen. Je nach Ausgang in Berlin könnte es jetzt doch so weit sein, nicht gerade zur Freude der Betroffenen.

"Eigentlich will ich nicht in den Bundestag", sagt Hohmann. Natürlich hoffe sie auf ein weiteres Mandat für Niedersachsen, aber sie sei zwiegespalten und drücke der Berliner Genossin die Daumen. Falls Hohmann zum Zuge käme, wartet in Berlin eine schlecht gelaunte Fraktion auf sie. Denn sollte Niedersachsen einen Sitz mehr bekommen, hätte die SPD wohl nicht einmal halb so viele Stimmen bekommen wie 2021.

Dann wäre die Klatsche perfekt.

Erschienen in stern 07/2024