Ein Jahr Ukraine-Krieg Von Schützenhelmen zu Kampfpanzern: eine Chronik deutscher Waffenlieferungen in die Ukraine

Leopard-1-Kampfpanzer Waffenlieferungen
Die höchste Eskalationsstufe der bisherigen Waffenlieferungen: Mehrere Leopard-1-Kampfpanzer warten darauf, an die Ukraine geliefert zu werden
© Axel Heimken / DPA
Seit zwölf Monaten tobt der Krieg in der Ukraine. Elf Monate hat es gedauert, bis der Westen nicht nur Milliarden Euro, sondern auch Dutzende Kampfpanzer zugesagt hat. Ein Rückblick auf Deutschlands zähen Weg der Unterstützung.

Ende Januar 2022. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht kündigt an, 5000 Helme in die Ukraine zu schicken. Das sei "Ausrüstung, die gebraucht wird", twittert das Verteidigungsministerium. Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki nennt die Lieferung hingegen "Witz", der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk drückt sich (im Nachhinein ungewohnt) diplomatisch aus und nennt die Aktion eine "reine Symbolgeste". Sein Land erwarte "eine 180-Grad-Kehrtwende der Bundesregierung, einen wahren Paradigmenwechsel". Bis Kiew diesen Paradigmenwechsel, diese "Zeitenwende" bekommt, soll es noch dauern.

Russland hatte zuvor Abertausende Soldaten an der ukrainischen Grenze zusammengezogen und Kiew seine Verbündeten dringend um Defensivwaffen und Flugabwehrsysteme gebeten. Die Zeichen stehen auf Invasion, die Rede ist noch vom "Ukraine-Konflikt". An einen Krieg will offenbar niemand so recht glauben.

Mit 5000 Helmen fing damals alles an. Ein Jahr später geht es um weitaus tödlichere Lieferungen – um Panzer, Raketenwerfer und Kampfjets. Eine Chronik der deutschen Waffenlieferungen. 

Vor Kriegsausbruch: eine alte Regel

Dass Deutschland überhaupt jemals mehr als Helme zu bieten hätte, war in vielerlei Hinsicht tatsächlich ein Tabu-, mindestens aber ein Traditionsbruch. Kritiker forderten, die Bundesrepublik müsse ihrer jahrzehntelangen Linie treu bleiben und dürfe keine Waffen in Krisen-, geschweige denn in Kriegsgebiete liefern. Grundlage ist ein 1971 erstmals verschriftliche Kabinettserklärung. Darin heißt es, dass Waffen ausschließlich an Bündnispartner (Nato-Staaten, EU-Mitglieder und einige wenige weitere Länder) geliefert werden dürfen. Ausnahmen dürften explizit nicht für Staaten gemacht werden, "die in bewaffnete Auseinandersetzungen verwickelt sind oder wo eine solche droht", heißt es im Grundsatztext.

Wenn man sie denn doch macht, die Ausnahme, spricht man von "letalen und nicht-letalen militärischen Unterstützungsleistungen". Ertüchtigungsinitiative heißt das Stichwort hierzu. Laut Bundesverteidigungsministerium geht es darum, den "lokalen Partner in die Lage zu versetzen, selbst für seine eigene und regionale Sicherheit zu sorgen." Zwei Milliarden Euro hat sich der Staat diese "Hilfe zur Selbsthilfe" 2022 kosten lassen; 2023 Jahr sollen es sogar noch 200 Millionen Euro mehr sein. Der Großteil davon geht an die Ukraine.

Ende Februar 2022: die Zeitenwende

Die Meldung vom russischen Invasionsbeginn in den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022 geht als Schockwelle um die (westliche) Welt. Bis zum Tag X hatte offenbar kaum jemand so recht daran geglaubt, dass Moskau mehr tun würde als die Zähne zu fletschen. Überraschend kam der Überfall aber eigentlich nicht. US-Geheimdienstberichte hatten seit Monaten in immer neuen Berichten, immer präziser eine russische Invasion vorhergesagt. 

Und wie reagiert Berlin? Die verblüffende Antwort: erstmal gar nicht. Zumindest nicht mit Waffen. Worte findet die Bundesregierung reichlich. Von einem "Alptraum", von einem "Tag der Schande" ist die Rede – nur von konkreter Hilfe eben weniger. Erst zwei Tage später zieht Deutschland nach. 1000 Panzerabwehrwaffen und 500 Stingerraketen sollen auf schnellstem Weg in die Ukraine. Es sei "unsere Pflicht, die Ukraine nach Kräften zu unterstützen", begründete Bundeskanzler Olaf Scholz den Schritt. Die alten Richtlinien gölten nicht mehr, jetzt, da Putin die europäische Sicherheitsordnung zertrümmere. Keine 24 Stunden später hält der Kanzler eine historische Rede vor dem Bundestag, in der er ankündigt, den Wehretat massiv aufstocken zu wollen. Eine Bundeswehr, die sich wehren kann, soll her – zum Preis von 100 Milliarden Euro. Die Zeitenwende ist da.

März 2022: aller Waffen Anfang

In den folgenden Wochen passiert in Sachen Waffenlieferung lange Zeit zwar nicht nichts, aber aus ukrainischer Sicht reichlich wenig. Während Kiew um schwere Waffen wie Kampf- und Schützenpanzer, Artilleriesysteme, Panzerhaubitzen, Kampfflugzeuge und Hubschrauber bittet, schickt Deutschland 2700 DDR-Raketen und 2000 Panzerfäuste. Was man sonst in Richtung Osten sendet, macht Berlin nicht öffentlich. Nur schwere Waffen, das versichert man bei jeder Gelegenheit, seien definitiv nicht darunter.

Dann gelingt den Ukrainern etwas, das ihnen noch häufig gelingen soll: Sie überraschen nicht nur ihre Verbündeten, sondern vor allem auch ihren Gegner. Sie halten ihre Hauptstadt – die Invasoren beißen sich bei der Belagerung von Kiew die Zähne aus und müssen sich alsbald zurückziehen ("neu gruppieren", so der Fach-/Falschbegriff).

Zwar stellt sich selbst Scholz nicht mehr grundsätzlich gegen Waffenlieferungen. Seinen medialen Spitznamen "der Zögerliche" verdient er sich jedoch auf andere Weise. Deutschland dürfe nicht im Alleingang handeln, wird sein neues Mantra. Auch dürfe Moskau Berlin nicht als aktive Kriegspartei verstehen und die Lage so ins Unermessliche eskalieren lassen. Veränderung: ja – aber nicht zu viel auf einmal, so wirkt es.

April 2022: das Umdenken nach Butscha

War der Krieg bislang noch etwas Unnahbares, weit Entferntes, ändert sich das mit dem Grauen von Butscha. Die Bilder aus dem Kiewer Vorort, in dem die Leichen Hunderter offenbar massakrierter Soldaten und Zivilisten teils gefesselt auf den Straßen liegen, werden zum Sinnbild dieses immer noch jungen Krieges. Die Gefechte verlagern sich zunehmend in den Landesosten. Kiew drängt Berlin zur Lieferung von Panzern – vor allem Leoparden und Marder sollen her. 

Zeitgleich werden auch in Scholz' eigenen Reihen die kritischen Stimmen lauter. Der Druck auf den Kanzler, die Ukraine doch mit schwerem Gerät zu versorgen, wächst von Tag zu Tag – auch in der Ampel-Koalition. Die FDP-Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann wirft dem Kanzler "Ladehemmungen" vor. Auch der grüne Europapolitiker Anton Hofreiter ist sich sicher: "Der Kanzler ist das Problem." Der wiederholt gebetsmühlenartig: "Deutsche Alleingänge wären falsch".

Doch Ende des Monats knickt Scholz ein, zumindest ein Stück weit. Nach massivem Druck aus dem Ausland, sagt seine Verteidigungsministerin die Lieferung von 30 Flugabwehrpanzern vom Typ Gepard zu – nur müssen die erst von der Industrie instandgesetzt werden. Erst fünf Monate später treffen sie in der Ukraine ein.

Trotzdem: Der Knoten ist geplatzt – und das sogar erstmals im Alleingang. Am 28. April stimmt der Bundestag mit großer Mehrheit einem gemeinsamen Antrag der Union und der Ampel-Parteien der Lieferung schwerer Waffen zu. Was jedoch auch zur Wahrheit gehört: Scholz' SPD zieht zwar am Ende mit – jedoch mehr als Getriebener denn als Initiator.

Sommer 2022: zäher Ringtausch

Mit den Temperaturen steigt auch die deutsche Lieferbereitschaft. Anfang Mai stellt Berlin der Ukraine (mit Verzögerung) Panzerhaubitzen in Aussicht, im Juni sagt das Kanzleramt das hochmoderne Luftverteidigungssystem Iris-T SLM zu und die Bundeswehr gibt fünf Mehrfachraketenwerfer vom Typ Mars II ab.

Scholz, der inzwischen Nicht-Mehr-Ganz-So-Zögerliche taut auf, aber nicht gänzlich ab. Beim Thema Kampf- und Schützenpanzern bleibt der Kanzler hart. Diese Hürde will er (noch) nicht überschreiten – zumindest nicht direkt. Indirekt sehr wohl. Im Zuge der Ringtausch-Vereinbarungen liefern die Slowakei und Griechenland Schützenpanzer an die Ukraine, Tschechien und Slowenien geben Kampfpanzer sowjetischer Bauart ab. Damit könnten die Ukrainer doch ohnehin besser umgehen, so die Berliner Argumentation. Im Gegenzug liefert die deutsche Rüstungsindustrie den Nato-Partnern modernen Ersatz. Damit sollen alle Parteien wenn schon nicht zufrieden, zumindest aber für den Moment ruhiggestellt werden. Nur verläuft die "Zeitenwende" eher schlecht als recht: Die Lieferungen gehen in geringer Stückzahl über die Bühne, ziehen sich oder scheitern (wie im Fall von Polen) gar, weil die Deutschland angeblich teils nicht mit den Kompensationslieferungen hinter kommt.  

Apropos hinterherkommen. Erst im Juni reist Scholz erstmals seit Kriegsbeginn nach Kiew – im Triumvirat mit Frankreichs Emmanuel Macron und Italiens Mario Draghi. Zuvor hatten bereits unter anderem Außenministerin Annalena Baerbock, Bundestagspräsidentin Bärbel Bas und Oppositionsführer Friedrich Merz der ukrainischen Hauptstadt einen Besuch abgestattet. Er habe einen schlichten Fototermin, ein "kurzes Rein und Raus" vermeiden wollen. Doch schnell wird klar: Es gibt keine zweite Chance für den ersten Eindruck. Und so präsentiert sich Deutschland und sein Kanzler über den Sommer hinweg weiter als Zauderer. 

Herbst und Winter 2022/23: Warten auf den Tabubruch

Während die Bundesregierung buchstäblich über Umwege liefert, nehmen die Forderungen aus Kiew kein Ende. Präsident Wolodymyr Selenskyj und seinem Generalstab geht es längst nicht mehr darum, den Invasoren lediglich standzuhalten. Der Feind ist deutlich unkoordinierter, schlechter ausgebildet und moralisch wackeliger als ursprünglich angenommen. Durchhalten war die alte, siegen ist die neue Devise. Dazu braucht es moderne, westliche Kampfpanzer, vor allem deutsche Leoparden.

Ohne diesen Goldstandard moderner Bodenkriegsführung ist es kaum möglich, die erfolgreiche Gegenoffensive im Herbst, bei der die Ukrainer im Eiltempo weite Teile ihres Landes zurückerobern, im kommenden Frühjahr fortzuführen. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. In der "Rasputiza" (Regenzeit) im Herbst, dem darauffolgenden "General Winter" und der erneuten Schlammperiode im Frühjahr sind breit angelegte Offensiven für beide Seiten nahezu aussichtslos. Russlands Aggression müsse scheitern, sagt Scholz noch Mitte September. Vor einem Sieg der Ukraine macht der Kanzler bis heute sprachlich einen weiten Bogen (sozusagen im Alleingang).

Dann ist er auf einmal da, der aus Kiewer Sicht lang herbeigesehnte (erste) Tabubruch. Zehn Monate hat es gedauert. Nachdem Frankreich am 5. Januar erklärt hat, eigene Spähpanzer liefern zu wollen, verkündet auch Deutschland kurz darauf (gemeinsam mit den USA) Schützenpanzer vom Typ Marder und Patriot-Luftabwehrsysteme zu schicken. Wieder hat sich die Grenze des Möglichen verschoben. Und wer Marder sagt, muss auch Leoparden sagen, oder?

Wieder lässt sich Berlin bitten, der Kanzler übt sich im Schweigen. Wenn er sich zu Panzer-Debatte äußert, betont er (wie immer), Alleingänge um jeden Preis vermeiden zu wollen. Was er noch vermeidet: das Wort Panzer. Doch der Druck wächst – bis zum 25. Januar, dem Tag des zweiten Tabubruchs binnen eines Monats. Jetzt ist es amtlich: Deutschland will 14 Leopard-Panzer liefern, die USA und Großbritannien stellen ihre eigenen Modelle in Aussicht. Elf Monate hat der Weg vom Helm zum Kampfpanzer gedauert.

Und wie reagiert der Kreml? Die Strategie des "Boiling Frog", des kochenden Froschs, geht offenbar auf. In dieser realpolitischen Metapher springt ein Frosch, der in kochendes Wasser geworfen wird, sofort aus dem Topf. Erhöht man die Temperatur jedoch langsam, bleibt er sitzen. Und in Moskau bleibt man sitzen. 

2023: neue Grenzen des Möglichen

Heute ist Deutschland (in absoluten Zahlen) der drittgrößte Waffenlieferant der Ukraine – nur die Amerikaner und die Briten schicken mehr Feuerkraft zur Verteidigung. Laut einer wöchentlich aktualisierten Liste der Bundesregierung hat die Ukraine mittlerweile fast 100 unterschiedliche Fahrzeuge, Waffen, Hilfsmittel und Munitionstypen erhalten, Dutzende weitere sind angekündigt. Dazu zählen nicht nur Schützenpanzer und Raketenabwehr, sondern auch grundlegendere Ressourcen wie Krankenwagen, Wolldecken, Zelte, Winterkleidung, Kühlschränke oder Krankenhausbetten.

Doch es bleibt dabei: Jedes Mal, wenn Deutschland in Sachen schwere Waffen – natürlich nicht im Alleingang – den nächsten Schritt erwägt, blickt man in Berlin nervös in Richtung Moskau. Mit 5000 Helmen fing alles an. Die Frage ist, ob bei 14 Leopard-Panzern Schluss ist. Immerhin hat sich die Grenze des Möglichen in den vergangenen zwölf Monaten oft genug verschoben. 2023 wird das vermutlich nicht anders sein. 

Quellen: eigene Berichterstattung stern; "Liste der militärischen Unterstützungsleistungen"; "FAQ Waffenlieferungen auf bundesregierung.de"; Bundesverteidigungsministerium "Zeit"; "verfassungsblog.de"; mit Material der Nachrichtenagentur AFP

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