Es ist seltsam ruhig in diesen Tagen auf der Paznauner Taya Hütte, droben, gleich neben der Höllspitzbahn. Normalerweise schenken die Barfrauen nachmittags um diese Zeit längst ihren zweihundertsten Willi aus, werfen "Kleine Feiglinge" über den Tresen, recken "die Hände zum Himmel" oder waren "noch niemals in New York". Heute führt lediglich eine Handvoll Bergisch-Gladbacher auf einer Bierbank den Kindertanz "Das rote Pferd" in Skischuhen auf, ein Ballermann-Hit der letzten Saison. "Nichts los hier", schimpft deren Mannschaftsführer, der sich ein "Saufen-für-den-Regenwald"-T-Shirt über den Daunen-Anorak gezogen hat. "Zu viele Russen."
Anna und Dimitri aus Moskau haben die Vorführung der Rheinländer unter Kopfschütteln verfolgt, dann setzen sie ihre Pelzmützen auf und machen sich auf den Weg zur Talabfahrt. Dort ist die Hölle los. Eine zähe Masse bulliger "Spyder"-Anoraks schiebt sich die Piste hinunter, gefolgt von zierlichen Damen in Silber, Gold oder Weiß mit Pelzkapuzen und farblich abgestimmten Skiern. Das Ziel: Sauna, ein ordentlicher Wodka und ein bisschen Shopping vor dem Dinner. So geht russisches Après-Ski.
Russen füllen das "Jännerloch"
In den ersten beiden Wochen des Jahres ist im Tiroler Party-Mekka Ischgl so gut wie alles russisch: die Speisekarten, die Fahnen auf der Bergstation, das Partyprogramm der VIP-Disko "Pasha". Dann nämlich hat Russland Weihnachtsferien, und wer in Moskau etwas auf sich hält und das nötige Kleingeld hat, macht sich auf den Weg in die Alpen. Über 300 Charter- und Privatflugzeuge aus Russland und der Ukraine landen im Januar am Flughafen Innsbruck, allein am 2. Januar kamen in Tirol rund 30.000 russische und ukrainische Gäste an, der Großteil davon fährt per Shuttle-Bus oder Mietauto weiter nach Sölden, Mayerhofen - oder Ischgl.
Ein Albtraum für die Deutschen, "ein Glücksfall für uns" sagt Andreas Steibl, Geschäftsführer des Tourismusverbands Ischgl. Der Januar war für die Gastwirte der 1340-Einwohner-Gemeinde traditionsgemäß ein schwieriger Monat. Die Deutschen und Österreicher erholen sich und ihr Konto vom Weihnachts- und Silvesterrausch, skigefahren wird erst wieder ab Februar. Ein Segen also, dass die heranwachsende Moskauer Mittelschicht Skiurlaub zum Lifestyle erklärt hat und das russisch-orthodoxe Weihnachtsfest zwei Wochen nach dem christlichen gefeiert wird. So bleibt der Weihnachtsschmuck einfach ein bisserl länger hängen, die Bing Crosby-Medleys laufen zwei Wochen weiter und das "Jännerloch" ist Schnee von gestern.
Wodka in der Sauna
"Wir sind ausgebucht", sagt Steibl. Über 5000 der insgesamt 11.000 Betten sind von Russen und Ukrainern belegt. Süßer als mit den neuen Gästen können Kassen kaum klingeln: Russen bleiben im Schnitt 10 bis 14 Tage (Deutsche und Österreicher nur 5), buchen fast ausschließlich Vier- oder Fünf-Sterne-Hotels, und das mindestens ein halbes Jahr im Voraus - mit Vorkasse, denn ohne bezahlte Unterkunft gibt es kein Visum. Natürlich springt da selbst bei schlechtem Wetter keiner kurzfristig ab. "Bilderbuchgäste" sagt Steibl, grinst und legt seinen Pferdeschwanz sorgfältig nach hinten. "Krisenresistent und ausgabefreudig." Der Tourismuschef im schwarzen Hemd und weißer Krawatte ist die perfekte Inkarnation des Ortes: die Haut ein bisschen zu braun, die Haare ein bisschen zu blond, die Uhr ein bisschen zu dick. Chronisch gut gelaunt, clever und geschäftstüchtig.
Ende der Neunziger kam der Wiener Tourismusfachmann nach Tirol, um aus Ischgl "eine Marke zu machen". Eine, die laut und bunt ist, chauvinistisch und exhibitionistisch, "Halligalli 24 Stunden am Tag". Inzwischen ist Steibl mit der "Grillalm"-Tochter verheiratet und längst im Dorf integriert. Stolz zieht er ein paar Zahlen aus dem Ärmel: 100 Euro gibt der durchschnittliche Tourist in Tirol pro Tag aus, in Ischgl sind es 145 Euro. Die Russen lassen sogar 235 Euro pro Tag im Dorf. "Das fängt mit neuem Skig'wand am ersten Tag an und hört mit Swarowski-Kristallpferdl'n am letzten auf."
Dazwischen wird selbstverständlich viel Alkohol und noch viel mehr Essen bestellt. Erst wenn sich der Tisch vor Speisen biegt, ist ein russisches Mahl perfekt - auch wenn die Hälfte davon im Schweineeimer landet. Miriam Muigg, Geschäftsführerin des Hotels "Christine" hat in den letzten Jahren viel gelernt über die Russen. Dass russische Gastgeber alles auffahren, was die Küche hergibt, und zwar gleichzeitig. Dass man den Teller aus Höflichkeit nie leer zurücklässt. Dass die Flasche immer auf dem Tisch bleiben muss, sonst gilt man als Geizhals. Einigen Kellnern seien anfangs oft die Flaschen nach dem Einschenken aus der Hand gerissen worden.) Dass die russische Sprache keine Höflichkeit kennt (selbst mit Bitte und Danke wird sparsam umgegangen. Und dass man Wodka auch prima in der Sauna trinken kann. In Badehose wohlgemerkt.
Parfum, Kaviar, Cartier-Feuerzeuge
In den ersten Jahren hagelte es Beschwerden von deutschen Gästen. Familie Muigg zog deshalb 2005 eine klare Linie: Der Jänner gehört den Russen. Deutsche müssen dann leider draußen bleiben. Für Januar wird nun alljährlich der Teevorrat aufgefüllt ("Kaffee mögen's nicht so.") und zum Frühstück werden weniger Semmeln, dafür umso mehr Eier bestellt. Die neuen Gäste danken es ihnen. "Sie bringen jedes Jahr Geschenke mit", berichtet Miriam Muigg, "Parfum, Kaviar, sogar Cartier-Feuerzeuge."
Ja, doch, großzügig seien sie, die Russen, bestätigt Michael Egger, 35. "Und ehrgeizig." Der Skilehrer der örtlichen Skischule ist bis Mitte Januar ausgebucht, so wie seine 200 Kollegen auch. Meist wird er privat für Familien reserviert: Oma, Opa, Eltern, Kinder. Im Moment ist "der Herr Nak" dran, ein russischer Millionär. "Familie geht denen über alles", erklärt Egger. Deswegen schätze er die Russen. Inzwischen hätten sie auch gelernt, einen nicht mehr wie Leibeigene zu behandeln. "Ich hab denen gesagt: Ich bin dein Skilehrer, nicht dein Skiträger!" Heute hat der Skilehrer frei, der Herr Nak ist mit der 12-köpfigen Familie mit der Stretch-Hummer, einem Maybach und einer S-Klasse im Konvoi nach Wien und Salzburg gefahren.
In der VIP-Lounge im Alpenhaus oben auf der Bergstation hat Elena Krymova mit zwei Freunden am Kamin in Filzpuschen Platz genommen. Sie bestellt Rotwein, Steak und Salat. Die Skischuhe haben die Kellner inzwischen zum Schuhwärmen gebracht. Die junge Moskauerin kennt so ziemlich jedes Skigebiet Tirols und findet Ischgl akzentfrei "fantastic". Warum nicht Kitzbühel? Oder Lech? Warum das Ibiza der Alpen? Sie legt ihren hübschen, ungeschminkten Kopf schief und sagt: "Tolles Skigebiet, tolle Boutiquen und tolle Lifte." Tatsächlich ist die Silvretta Arena eines der modernsten Skigebiete Österreichs. Es gibt 235 Pistenkilometer, knapp 500 Beschneiungs- und 40 Liftanlagen, dazu ist der komplette Ort unterkellert und kann 4000 parkende Autos schlucken. Elena schluckt eine Olive herunter. "Ist es nicht toll, dass die Gondeln hier Sitzheizungen haben?" In Kitzbühel dagegen würden einem museumsreife Holzsitze in die Kniekehlen rattern. "Ich weiß, Ihr findet so was romantisch, wir nicht."
Grobschlächtige Kerle mit falschen Blondinen
Zu einem romantischen Abend im Pacha, laut Eigenwerbung "das Wohnzimmer der Models", gehört üblicherweise eine Flasche Champagner, die die Kellner mit Säbeln köpfen. Seit Neuestem gibt es auch Prosecco aus goldenen Aludosen mit der Aufschrift "Rich" - eine Erfindung des Inhabers Günther Aloys. Am orthodoxen Weihnachtsabend, dem 6. Januar, fließt jedoch nichts von alldem. Statt dessen Wodka aus einem 10-Liter-Kanister am Tresen in Longdrinkgläser. Gratis.
Für die Weihnachtsparty hat Aloys die neunköpfige ukrainische Band "Choboti z bugaya" samt Begleitung und "Khortytsa"-Wodka einfliegen lassen. Dazu gibt es Speckbrote mit sauren Gurken. Auf der Tanzfläche hüpfen, jauchzen und singen Russen und Ukrainer jeden Alters. Grobschlächtige Kerle mit falschen Blondinen, hübsche Studentinnen mit jungen Bänkern, Omas mit Teenies, Söhne mit Müttern. Nach dem üblichen mit Geld und Gold um sich werfenden Russen-Klischee sucht man hier vergeblich. Die Party wirkt bodenständig und ausgelassen, wie ein sympathisches Familienfest.
"Es sind nicht mehr die neureichen Proleten, die in den ersten Jahren kamen", schreit Tourismus-Obmann Steibl durch die Menge. Mit Günther Aloys und zwei Gogo-Tänzerinnen steht er am Rand und betrachtet zufrieden das gemeinsame Werk. Früher hätten einige Russen schon mal in den Saunaofen "einibrunzt" (zu deutsch: gepinkelt), heute kämen dagegen gesittete Familien, junge Paare, obere Mittelschicht, und ein paar sehr Reiche.
Günther Aloys hat als einer der ersten im Ort den Russenbraten gerochen. Sein Hotel Madlein ist Treffpunkt der russischen Nouveau Riches. Aloys riecht so ziemlich alles, das sich zu Geld verwerten lässt. Dass aus dem einst beliebigen Skiort Ischgl eine riesige Open-Air-Disko wurde, ist sein Werk, ebenso die Popkonzerte oben auf der Idalp. Erst sang Elton John auf 2300 Metern Höhe, dann Tina Turner, Phil Collins, Anastacia, nur Michael Jackson sagte kurzfristig ab. 25 000 Besucher quetschen sich zu den "Top of the Mountains"-Konzerten in die kleine Gemeinde. "Tourismus muss eng sein", sagt Aloys. "Man braucht Körperkontakt."
Aloys ist schlank, groß und trägt die grauen Haare in Wellen nach hinten gekämmt. Eine Mischung aus Frank Schätzing und Matthieu Carrière, nur weniger affektiert. Zu seinen neuesten Visionen zählen: überdachte Pisten, ein rot gefärbter Schneeteppich, eine 8200-Stufen-Treppe den Berg hinauf, "wie bei einem chinesischen Kloster." Ob das den Russen gefällt? "Den Russen?" Man sieht, wie ihn das Thema langweilt. Aloys ist längst einen Schritt weiter. Neulich erst, in Peking, da hätte er ein interessantes Gespräch mit Mitarbeitern des Außenministeriums gehabt. Dort wartet schließlich die nächste Zielgruppe: 1,4 Milliarden Chinesen.