Bei gutem Wetter spielt sich oben am Kreuzjoch alle 15 Sekunden das gleiche Szenario ab. Jedes Mal, wenn der altersschwache Sessellift zwei Wintersportler auf die Piste spuckt, verstummen die Gespräche. Die Männer gleiten ein paar Meter über den Schnee, dann stechen sie mit ihren Skistöcken in den Horizont. Die Frauen schwenken derweil ihre Köpfe im 180-Grad-Winkel durchs Panorama.
Was ihnen allen ein glückseliges Lächeln auf die Gesichter zaubert, ist nicht nur die Vorfreude auf die Kandahar-Abfahrt, die steil und frisch gewalzt vor ihnen liegt. Wer die Augen zusammenkneift, erkennt hinten am Horizont die Stadtgrenze von München. So weit entfernt, dass ihr grauer Mantel fast mit dem Himmel verschwimmt und man sich in der Garmisch-Partenkirchner Bergwelt unendlich weit von der Großstadt entfernt fühlt. Und doch ganz nah dran ist, da abends die Bimmelbahn weniger als 90 Minuten bis an den Hauptbahnhof braucht.
Fast keine Wartezeiten
Für Münchner gehört der Tagestrip zur winterlichen Naherholung. Doch auch für Auswärtige lohnt sich der Ausflug. Garmisch-Partenkirchen kann zwar nicht mit den Skigebieten von Sölden oder Ischgl mithalten. Doch dafür muss man an den Liften von Hausberg, Kreuzjoch und Alpspitze selbst am Wochenende kaum anstehen. Die Langlaufloipen von Grainau, Kaltenbrunn und Klais sind perfekt gespurt, und das Ortszentrum hat sich bisher recht erfolgreich gegen die Ufftata-Attacken beim Après-Ski gewehrt. Im Ort schmiegen sich urbayerische Kneipen und Holzschnitzwerkstätten an moderne Sportgeschäfte und bodenständige Restaurants. 2011 sollen hier die alpinen Skiweltmeisterschaften stattfinden. Doch schon jetzt weicht die Garmisch-Partenkirchner Beschaulichkeit regelmäßig der Aufgeregtheit sportlicher Großveranstaltungen. Zum Beispiel an Neujahr, wenn sich die Springer von der Olympiaschanze stürzen. Oder wenn die Slalomfahrer Ende Januar den Kurs am Gudiberg hinunterwedeln. Und auch dazwischen, wenn wieder mal der alpine Skizirkus an der Kandahar-Abfahrt aufschlägt. Und über all dem Trubel wacht die Zugspitze wie ein stiller Zuschauer.
Die Dunkelheit liegt noch über Deutschlands höchstem Berg, als Markus Dörfler seine ersten Zuhörer um sich schart. Dörfler, 46, arbeitet als "Mountain- Manager" an der Zugspitze und sitzt gerade in der Zahnradbahn, die am Sonntagmorgen zum "Morgenglühen" gen Gipfel ruckelt. Wenn es nicht so gestürmt hätte an diesem Tag, wären die 80 Frühaufsteher in acht Minuten mit der Eibsee- Seilbahn in die Höhe geschwebt. So aber sind sie mehr als eine Stunde mit dem Zug unterwegs zum Zugspitzplatt, und Dörfler nutzt die Gelegenheit, den Fremden die Superlative seiner Heimat zu erklären. "Dort oben haben Sie bis zu 250 Kilometer Fernsicht und einen Blick auf 400 Gipfel", sagt er. "Bernina, Dachstein, Großvenediger, das volle Programm." Er hat in den vergangenen 25 Jahren schon viele Touristen in die Bergwelt eingeführt. Wenn man Dörfler fragt, was sich verändert hat, überlegt er und sagt: "Die Menschen setzen jetzt andere Schwerpunkte. Weniger Hektik, mehr Erlebnis."
Die Macht des Panoramas
Das soll auch der Sonnenaufgang auf 2962 Meter bringen, doch leider verstecken sich die Gipfel hinter dicken Wolken. Der Wind pfeift über das Aussichtsplateau, und die französische Ausflugsgruppe verzieht sich schnell ans Frühstücksbüfett. Doch dann reißt der Himmel auf, die Sonne färbt die Felsspitzen orange, und Dörfler schwärmt: "Diese Berge machen süchtig."
Die Macht des Panoramas wirkt schon lange. Bereits 1936 wurden hier die Olympischen Winterspiele ausgetragen, ein Jahr zuvor hatten sich die Ortschaften Garmisch und Partenkirchen zusammengeschlossen. Hitler nutzte die Veranstaltung als Propaganda - die Leistungen der Sportler waren eher nebensächlich. "Aber ich werde nie vergessen, wie die damals von der Schanze runtergesprungen sind", sagt Hans Ostler. "Das waren mutige Helden."
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Ein Mann für alles
Ostler, 84, hat gerade eine "Portion Kaffee" im Olympiahaus an der Schanze bestellt. 1936 war er elf Jahre alt, Geld für eine Eintrittskarte besaß er nicht, und deshalb hat er sich heimlich unter dem Zaun hindurchgequetscht, um die Wettbewerbe an der Schanze mitzuerleben. Seither hat er beim Neujahrsspringen so ziemlich jeden Job gemacht, den man an einer Skisprungschanze haben kann: Er war Springer, Weitenmesser, Schanzentreter, Anlaufchef, Rennleiter und schließlich 17 Jahre lang Präsident der Vierschanzen-Tournee.
Ostler gehört nicht zu den Menschen, die sentimental in die Vergangenheit blicken. Er hat den Abriss der alten Schanze befürwortet, obwohl bei der Sprengung 2007 auch viele seiner Erinnerungen zu Staub zerfielen. "Aber sie war nicht mehr zeitgemäß", sagt er und schaut aus dem Fenster. Draußen trainiert die übernächste Generation der Partenkirchner Skispringer. Als es um die Architektur der neuen Schanze ging, hat Ostler sich für diese gewagte Konstruktion eingesetzt, die ohne Schanzenturm über dem Ort zu schweben scheint. Viele waren zunächst skeptisch. Ein klassischer Turm hätte es doch auch getan, argumentierten sie. Ostler aber sagt: "Garmisch brauchte ein neues Wahrzeichen." Beim ersten Neujahrsspringen auf der neuen Schanze 2008 hatte Ostler viele Termine, aber irgendwann hat er mal durchgeatmet und sich in einer stillen Ecke über sein Werk gefreut. "Siehst du, hab ich mir gesagt, jetzt hast du noch was für die Zukunft vollbracht."
Hotels mit Retro-Charme
Die Zukunft tut sich manchmal etwas schwer in Garmisch-Partenkirchen. Einige Hotels und Restaurants haben den Sprung ins dritte Jahrtausend noch nicht in Angriff genommen - sie bieten 1980er Retro-Charme. Man kann es ihnen nicht verübeln, haben es doch nicht einmal die beiden Ortsteile geschafft, in 70 Jahren eine Einheit zu bilden. Es gibt sowohl in Garmisch als auch in Partenkirchen eine Feuerwehr, und bis vor ein paar Jahren durften die Partenkirchner angeblich nicht das Dorffest der Garmischer betreten - und umgekehrt. "Aber die Jungen merken, dass es so nicht weitergeht", sagt Andi Demmel, während er eine üppige Brotzeit auf dem Tisch abstellt.
Demmel, 43, war in seinem ersten Leben Trainer der deutschen Nachwuchsskifahrer. Er hat der Riesch Maria Geschwindigkeit beigebracht und dem Neureuther Felix Kurvenfahren - zu einer Zeit, als beide noch Unbekannte waren im internationalen Brettl-Business. Dann spielten irgendwann seine Knochen und Sehnen nicht mehr mit, und Demmel wechselte von der Piste auf die Hütte. Vor vier Jahren hat er mit einem Kollegen am Hausberg in einer ehemaligen Liftstation die "Drehmöser 9" eröffnet. Von der Terrasse der Hütte blickt man auf Alpspitze und Waxenstein, auf der Karte verführen bayerische Schmankerl, knusprige Pizzen und zarte Rinderlenden zur verlängerten Mittagspause. "Ich will, dass die Leute heimfahren und denken: Mensch, war dieser Skitag ein Genuss", sagt Demmel.
Er verzichtet deshalb beim Après-Ski auf den "Anton aus Tirol", dafür flackert ein Kaminfeuer neben dem Eingang. Und seine Würste lässt er von einem ehemaligen Skirennfahrer aus seinem Kader liefern, der unten im Ort als Metzger arbeitet. "Die Burschen kommen gern zum Weißwurstessen zu mir rauf ", sagt Demmel und meint die, die heute im Weltcup fahren. "Denen gefällt es hier oben. Von der Schwierigkeit der Piste können wir mit großen Skigebieten mithalten. Vom Panorama sowieso."