Herr Brockhagen, kann man heute noch mit guten Klima-Gewissen eine Kreuzfahrt machen?
Bei Atmosfair beurteilen wir nicht Ihre Wünsche, egal ob es eine Kreuzfahrt, ein Auto oder ein Smartphone ist. Aber um die Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad zu beschränken, bleibt für jeden Menschen so wenig CO2-Budget, dass dies bei einer Kreuzfahrt schnell überschritten ist, insbesondere, wenn Sie dazu anfliegen.
Kreuzfahrer können bei Atmosfair ihre Reise nicht mehr kompensieren. Sie haben für diese Gruppe das Angebot eingestellt. Ein Kooperationsvertrag mit dem Markführer Aida Cruises wurde gekündigt. Warum?
Für den Klimaschutz gilt: CO2 zu vermeiden und zu reduzieren ist zentral, CO2 kompensieren dagegen nur ergänzend. Nur die CO2-Reduktion führt zum Klimaziel, und dafür brauchen wir neue Technologien. In unserer Kooperation mit Aida sollte genau so eine neue Schlüsseltechnologie zur Anwendung kommen. Dass dies nicht umgesetzt wurde, hat uns gezeigt, dass der Eigenbeitrag für Klimaschutz in der Kreuzfahrtbranche nicht stimmt. Sie werfen Aida vor, dass nicht schnell genug und entschieden genug in synthetische Treibstoffe investiert wurde...
Die Branche ist nicht annähernd auf dem Weg zu den Klimazielen von Paris. Kompensation lenkt dann eher ab als zu helfen und bindet Gelder an der falschen Stelle.
Ist "Kreuzfahren" das schlimmste Klimavergehen in unserer Zeit?
Nein, sie können auch beim Fliegen und Autofahren in kurzer Zeit sehr viel CO2 ausstoßen, oder insgesamt bei täglichem Fleischkonsum.
Wie viel CO2 darf ein Mensch mit seinen Aktivitäten pro Jahr emittieren, ohne damit dem Klima zu schaden?
Um die Erderwärmung auf etwa 1,5 Grad zu beschränken hat jeder Mensch auf diesem Planeten im Durchschnitt noch insgesamt ein CO2 Budget von ungefähr 50 Tonnen CO2, das für die ganze Zeit bis zur vollständigen Dekarbonisierung der Weltwirtschaft reichen muss. Das bedeutet pro Person im Mittel grob ein bis zwei Tonnen CO2 pro Jahr. Heute könnten es aber auch noch doppelt so viel Tonnen CO2 jährlich pro Mensch sein. Aber dann müssen seine Emissionen in den kommenden Jahren umso schneller auf null sinken.
Warum kostet bei Ihnen die Kompensation für eine Tonne CO2 23 Euro? Andere Kompensations-Portale sind günstiger.
Die Kosten ergeben sich aus unserem Zuschuss zu einer Technologie und der damit eingesparten CO2-Menge. Wenn wir eine Kleinbiogasanlage für einen Bauernhof in Kenia mit 400 Euro bezuschussen und diese insgesamt 20 Tonnen CO2 einspart, dann kostet die Tonne CO2-Minderung 20 Euro. Andere würden aber die gleiche Anlage vielleicht nur mit 100 Euro bezuschussen. Dann würde die Tonne CO2 Minderung zwar nur 5 Euro kosten, aber es würden sich nur wohlhabende Bauern die Anlage kaufen.
Was machen Sie konkret mit dem Kompensationsgeld?
Wir initiieren, planen und betreiben über 20 Projekte in 14 Ländern des globalen Südens. Dazu gehören der Aufbau von erneuerbaren Energien wie Photovoltaik zur Elektrifizierung in netzfernen ländlichen Regionen, Kraftwerke, die aus Ernteresten grünen Strom ins Netz einspeisen, oder Haushaltstechnologien wie Solarlampen, effiziente Öfen und kleine Biogasanlagen für die Nutzung von Kuhdung. Alle Projekte sparen nicht nur CO2 ein, sondern entlasten die Menschen durch verringerten Holzverbrauch, weniger Abgase und schaffen Arbeitsplätze vor Ort.
Ist CO2-Kompensation der neue, moderne Ablasshandel? Nur Wohlhabende können es sich leisten.
Nein, denn das Geld verschwindet nicht in den Taschen von Kirchenfunktionären, sondern kommt an und wirkt. Das lassen wir von UN-akkreditierten und haftenden Prüfern messen, wie z.B. den TÜV. Ablasshandel wäre es erst, wenn Sie CO2 - Kompensation nutzen, um sich vor der technisch möglichen CO2-Reduktion oder besseren Alternativen zu drücken. Studien zeigen aber, dass das bei der Kompensation nicht der Fall ist. Menschen, die kompensieren, wissen, dass das nur die zweitbeste Lösung nach dem Verzicht ist. Sie nutzen die CO2-Kompensation nicht als Freiflugschein.
Rettet CO2-Kompensation das Klima und die Welt?
Nein. Denn für die Klimarettung müssen CO2-Emissionen direkt an der Quelle eingespart werden. Das versteht eigentlich jeder schon intuitiv. Genau das leistet aber die CO2-Kompensation nicht, sie führt nicht zum Klimaziel. Deswegen verlangen wir von unseren Partnern, dass sie neben der Kompensation auch alles tun, was an der eigentlichen CO2-Quelle getan werden kann. Wenn zum Beispiel ein Unternehmen beschließt, an seinen Produktionsstandorten bis 2030 die CO2-Emissionen auf null zu senken, dann ist das zielführend. Die CO2-Kompensation kann hier noch ergänzend hinzukommen, solange dieses Ziel nicht erreicht ist. Dann ist sie sinnvoll.
Was sind die drei wichtigsten und besten Maßnahmen, um individuell den CO2-Abdruck im Alltag zu reduzieren?
Viel Fahrrad und Zug fahren, vegetarisch leben und öfter mal nichts tun.
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