Der Fotograf Jan Vincent Kleine mag seine Arbeit sehr, aber so richtig lieben kann er sie nur, wenn sie getan ist. Wenn der Mensch, dem er mit dem Objektiv seiner Kamera gefolgt ist, wieder festen Boden unter den Füßen hat. Nach einer Kletterpartie über dem Abgrund, meist ungesichert, ohne Seil und Karabiner. Nichts als Luft unter sich, geklammert an eine mehrere Hundert Meter hohe Steilwand.
Die Ankunft auf dem Gipfel, das ist der Moment der Erlösung für Kleine. „All die Ängste und Zweifel sind plötzlich verflogen“, sagt er. „Ich bin wieder frei. Ein herrliches Gefühl.“
Der Impuls muss immer vom Athleten kommen
Jan Vincent Kleine, 31 Jahre alt, aufgewachsen in Hamburg, ist ein außergewöhnlicher Fotoreporter. Kein Chronist, der lediglich dokumentiert, was passiert. Kleine besitzt eine enge, oft schicksalhafte Verbindung zu den Menschen, die er porträtiert. Seine Helden sind Kletterer und Alpinisten. Viele von ihnen zählen zur Weltspitze in ihren Disziplinen. Und manche sind bereit, ihre Gesundheit zu riskieren für eine spektakuläre Route; mitunter setzen sie sogar ihr Leben aufs Spiel.
„Ich frage mich immer wieder, welche Verantwortung ich für einen Athleten trage“, sagt Kleine. „Ich dränge niemanden zu waghalsigen Touren. Der Impuls muss immer vom Athleten kommen. Das ist meine Regel Nummer eins.“
Bislang ist alles gut gegangen. Keine Abstürze, keine schweren Unfälle. Kleine hat schwindelerregende Aufnahmen gemacht und eine ganz eigene, poetische Bildsprache entwickelt. Er zählt schon jetzt zu den besten Outdoor-Fotografen Europas – dabei ist er erst seit vier Jahren ernsthaft im Geschäft.
Nach dem Abitur assistierte Kleine eineinhalb Jahre bei einem Werbefotografen in Köln. Er studierte danach Volkswirtschaft in Göttingen, doch Kleine zog es bald zurück zur Fotografie. Nicht ins Studio, sondern nach draußen, in die freie Natur. Weil er niemanden kannte in der Szene der Kletterer und Bergsteiger, besuchte er Outdoor-Messen und bot sich als Fotograf an, ohne Bezahlung. So tastete er sich langsam heran an die Naturburschen, die zwar die Wildnis lieben, sich aber auch gern bei Instagram im Bild sehen.
Nackter Oberkörper, ein Gebirge aus Muskeln, jede Sehne angespannt
Heute ist Kleine mit den Stars der Branche befreundet. Häufig geht er mit Magnus Midtbø auf Reisen, einem der weltbesten Felskletterer. Der 28 Jahre alte Norweger spielt die Hauptrolle in Kleines stärksten Bildern: Da ist die Verdonschlucht, gelegen in der Provence, grauer Fels, unten gurgelt ein türkisfarbener Fluss. Midtbø krallt sich in der Wand fest. Nackter Oberkörper, ein Gebirge aus Muskeln, jede Sehne angespannt. Es ist nur ein Foto, ein festgefrorener Moment, aber vor dem inneren Auge des Betrachters läuft ein Film ab: Was bloß, wenn Midtbø einen falschen Tritt tut? Man sieht ihn schon hinabstürzen in den Fluss, ungebremst, gesichert durch nichts und niemanden.
Kleine, der das Klettern in einer Halle im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg lernte, fotografiert meist aus sicherer Position. Oft seilt er sich von oben in eine Wand hinab und kommt so seinen Protagonisten nah. Aus der Halbdistanz, von einer angrenzenden Bergflanke aus, gelang Kleine ein beeindruckendes Porträt von Magnus Midtbø. Der Kletterer hält sich mit nur einer Hand am Trolltunga fest, einer majestätischen Felszunge in Südnorwegen, 700 Meter über dem Stausee Ringedalsvatnet. Midtbø hängt da so locker, als verspotte er den Felsen. Ein Clown, der Schwerkraft eine Nase drehend.
Starke Kletterbilder leben von der Dramatik, vom Ausloten physikalischer Grenzen
Dieses Foto, aufgenommen im Juli 2016, hat heftige Diskussionen ausgelöst in Norwegen. Die Polizei kritisierte, die artistische Einlage rege zum Nachahmen an. Zudem sei auf dem Foto nicht erkennbar, dass Midtbø durch ein Seil gesichert gewesen sei, was das gewaltige Wagnis verharmlose. Midtbø trat in mehreren Talkshows auf und musste das Bild verteidigen, das Kleine über die sozialen Medien rund um die Welt geschickt hatte.
Kleine weiß, dass er dieses Spannungsfeld nie wird auflösen können: Starke Kletterbilder leben von der Dramatik, vom Ausloten physikalischer Grenzen, vom Handeln gegen die menschliche Vernunft. Dem entgegen steht die Verantwortung des Fotografen für seine Kunst. Und das Wissen um ihre mitunter gefährliche Wirkung.
„Ich will mit meinen Bildern berühren“, sagt Kleine, „aber bei manchen habe ich Sorge, dass sie zum blindem Nacheifern führen. Ohne jede Sicherung zu klettern, das ist nur etwas für Weltklasseprofis. Unter solche Bilder setze ich den Hinweis, dass die Szenen nicht zum Selbstversuch geeignet sind.“
Auch in diesem Sommer wird Kleine wieder mit spektakulären Fotos von sich reden machen. Zunächst geht es nach Nordspanien, Sardinien und Norwegen, im Juli schließlich in den Himalaja. Kleine begleitet dort drei Wochen lang einen deutschen Abenteurer. Der ist 50 Jahre alt, ein einsamer Wolf, der im Internet lieber nichts über seine Touren lesen und sehen möchte. Kleine sagt, er fahre trotzdem mit, als Freund.
Und ein bisschen auch als Fotograf.