"Es passiert mir so oft, dass ich über die beiden Dörfer erzähle, und die Leute dann staunen, dass es solch ein ländliches Ghetto in der Schweiz gab", sagt Ruth Dreifuss. Die heute über 80-Jährige wurde 1999 die erste weibliche Bundespräsidentin der Schweiz. Die prominente Politikerin fühlt sich nicht nur ihren Wurzeln in Endingen und Lengnau sehr verbunden.
Sie eröffnete 2009 den jüdischen Kulturweg im Kanton Aragau zwischen Endingen und Lengnau, der durch eine Initiative vieler Ehrenamtlicher ins Leben gerufen wurde, damit dieses Kapitel jüdischer Geschichte nicht in Vergessenheit gerät.
Denn an keinem anderen Ort in der Schweiz finden Besucher heute eine so dichte und intakte jüdische Baukultur wie in diesen beiden Dörfern im Tal des Flusses Surb. Hier stehen Synagogen, Schul- und Gemeindehäuser mit deren Mikwen, ein gemeinsam genutzter Friedhof sowie ein bis heute bewohntes jüdisches Altersheim. Hier waren über Generationen die Vorfahren der Familien Wyler, Bollag, Dreifuss, Weil, Bernheim, Picard und Guggenheim zu Hause.
Da Juden damals weder Boden noch Immobilien besitzen durften, lebten sie in Häusern, die als Besonderheit eine Doppeltür aufweisen. Je einen Eingang für Juden und Christen, der jeweils zu verschiedenen Stockwerken führte. So wurde das Kohabitationsverbot umgangen, das ein gemeinsames Wohnen der beiden verschiedenen Konfessionszugehörigkeiten untersagte.
Vom Aargau nach Amerika
Die große Veränderung setzte erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein, insbesondere durch die Totalrevision der Schweizer Bundesverfassung 1874, die neben der Niederlassungsfreiheit auch die Glaubens- und Gewissensfreiheit für alle Religionsgemeinschaften garantierte.
"Bemerkenswert ist, dass die Schweiz als einziges Land der Welt die Gleichberechtigung der Juden durch einen Volksentscheid beschlossen hat – auf äußeren Druck hin zwar, aber es war der demokratische Wille von Volk und Ständen", kommentiert Jonathan Kreutner, der Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund in der "NZZ" diese Entscheidung, die eine starke Abwanderung der Surbtaler Juden in die Schweizer Städte zur Folge hatte.
Zuvor waren schon vereinzelt Dorfbewohner ausgewandert, wie 1847 Teile der Familie Guggenheim über Hamburg in die Vereinigten Staaten, wo Simon Guggenheim mit seinem Sohn Meyer ein Unternehmen aufbaute, aus dem ein Bergbaukonzern hervorging.
Begegnungszentrum des Vereins Doppeltür
Heute hat Lengnau selber keine aktive jüdische Gemeinde, sondern hat sich der Kultusgemeinde in Endingen angeschlossen. Für André Bloch aus der dortigen Gemeinde erzählt der jüdische Kulturweg "auf kleinstem Raum auch die Geschichte des Verhältnisses zwischen Juden und Christen, welches ehemals zerbrechlicher Natur war."
Als 2013 in Lengnau die ehemalige Matze-Bäckerei abgerissen und einem neuen Wohnhaus weichen musste, entstand eine Diskussion: Wie mit dem Erbe umgehen? Es gründete sich der Verein Doppeltür, der 2019 ein dreistöckiges Doppeltürhaus im Dorfkern von Lengnau erwarb, wo ein Besucher- und Begegnungszentrum entstehen soll.
Inzwischen steht ein Vermittlungs- und Ausstellungskonzept des auf 11,2 Millionen Schweizer Franken veranschlagten Projekts: "Ziel ist es, Einblicke in die außergewöhnliche Geschichte des Surbtals zu ermöglichen und gleichzeitig Anknüpfungspunkte zu aktuellen Gesellschaftsthemen wie Respekt, Migration und Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher religiöser und kultureller Herkunft zu bieten."
Besonders für junge Menschen soll das Zentrum Doppeltür ein Ort des Dialogs in Form von Veranstaltungen und Workshops werden. Wenn das Haus wie geplant im Jahre 2024 dank auch vieler Sponsoren seine Türen öffnet, hat der jüdische Kulturweg auch eine Brücke zur Gegenwart geschlagen.
Quellen: www.lengnau-ag.ch/kulturweg, www.doppeltuer.ch, www.alemannia-judaica.de, www.swissjews.ch
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