Neusiedler See Stilles Wasser

Der Besucherstrom versiegt, die Herbstsonne strahlt. Die beste Zeit, zu entdecken, wie schön Österreich ohne Berge sein kann - rund um den Neusiedler See im Burgenland.

Markus Löschenkohl sitzt in seinem Wohnwagen an der Straße von Illmitz nach Podersdorf und qualmt die Bude voll. Draußen im heulenden Sturm steht seine kleine Piper. Pause für Flieger und Flugzeug bei Windstärke neun.Ein Glück für Stare - und verstörte Autofahrer. Die erschrecken, wenn sonst der Pilot knapp über die Baumwipfel fegt; die Vögel wiederum können sich nun auf reife Trauben stürzen."Wenn der Schwarm über einen Weingarten herfällt, brauchst nach 20 Minuten nicht mehr hinzugehen", sagt Löschenkohls Kollege Robert Klein. Ihr Job ist es, die Traubenräuber per Flugzeug zu verscheuchen. Um Stare hoch und Richtung See zu treiben, "muss dir das Flugzeug am Hintern kleben", sagt Star-Fighter Löschenkohl. "Zwei Saisons überleben, dann passt's." Wer bei zehn Meter Flughöhe eine Kurve zu tief anlegt, steigt nicht mehr aus. Darauf einen "Sturm", den jungen Wein, im nächsten Dorfgasthof. Schmeckt süß, stürmt aber die Birne.

Herbst am Neusiedler See, das ist die schönste Jahreszeit. Wenn Reisebusse und Camper nur noch tröpfeln, entfaltet sich das Land am östlichen Ende Österreichs in seiner ganzen Schönheit. Ein Himmel so weit wie am Meer. Melancholie der Farben. Schlechtwetterzonen, die weit vorher links und rechts abbiegen und der Region die meisten Sonnentage Österreichs bescheren. Metallfarben der See, leer die Parkplätze, voll die Gasthöfe und Heurigen. Fasane und Nordic Walker auf den Straßen. Jetzt kommen Genießer.Ein Zander im Ganzen bei Emmerich Varga in Gols, einem der letzten 15 Berufsfischer. Paprika mit Blutwurst gefüllt in der Blauen Gans zu Weiden. Speckjause im Gowerl-Haus zu Illmitz. Tomatentörtchen auf warmem Schafskäse im Restaurant Nyikospark in Neusiedl, da schlemmt der Gast.Natürlich heißt es bei unseren Nachbarn nicht Tomaten, sondern Paradeiser. Beim Erich Stekovics in Frauenkirchen wachsen bei Wind und Wetter 3000 Sorten, kein Witz, und haben weder Plastikplanen noch Gewächshaus je gesehen. Ich probiere die Paradeiser Gelbe Johannisbeere und Black Plum direkt vom Strauch, ein Feuerwerk von Aromen, verlorener Geschmack der Kindheit. Bei Stekovics riecht es nach eingekochter Tomatenkonfitüre, gemixt aus 100 Sorten. Schnell eine Löffelprobe, noch eine von der Mieze-Schindler-Marmelade und dann mit Gläsern voll Paprika, Wildmarillen-Konfitüre, Stachelgurken vom Hof.

Mal wieder nur 110 Zentimeter Wasserstand im Neusiedler See, klagt Freundin Gitti. Schon spukt wie 1938 das Projekt einer Pipeline von der Donau, denn das burgenländische Meer hat kaum Zuflüsse. An einem warmen Tag verdunsten schon mal 30 000 Kubikmeter ins Nichts. Die Vorstellung, das touristische Highlight könne wie zuletzt vor 130 Jahren ganz austrocknen, erzeugt Panik bei den Verbänden. Nur bei Alois Lang vom Nationalpark nicht: "Ein natürlicher Steppensee ist keine Badewanne, in die man Wasser rein- oder rauslässt. Am meisten frustriert sind Leute, die sich Riesenboote gekauft haben und nun nicht überall fahren können." Wer stecken bleibt, kann immerhin zurück in den Hafen waten.An den 45 Lacken, kleinen Seen im Nationalpark, forschen Besucher nach Kornweihe und Uferschnepfe. Je prächtiger Teleobjektiv und Fernglas, desto deutscher das Kennzeichen. Die meisten Vögel sind schon weg. Dafür grasen ungarische Steppenrinder und bis zu 250 Kilo schwere Mangaliza-Schweine, damit sich nicht Robinie, Ölweide und Hagebutte auf der Brache ausbreiten. Vor allem nicht das Schilf, das schon heute mehr als die Hälfte der 320 Quadratkilometer See ausmacht.Schwein wie Rind landen auch in den Kochtöpfen und Bratpfannen der Gastronomie. Beim Fleischer Karlo, 126 Kilo Lebendgewicht, probiere ich geselchte Rohwürstel und Rindersaftschinken von einem Weidevieh, das nicht mit Antibiotika traktiert wurde. Karlos Kollege Josef Waba staunte beim ersten geschlachteten Mangaliza-Schwein: "Eine Handbreit Speck, habe die Ehre."Tiefebene, so weit das Auge reicht. Hier im Seewinkel erinnert nichts an die Alpenrepublik Österreich, mit Ziehbrunnen und Puszta ähnelt die Gegend eher Ungarn, zu dem das Burgenland bis zum Volksentscheid von 1921 auch gehörte. "Die Großmutter sprach nicht gescheit Deutsch und nicht gescheit Ungarisch", erinnert sich der Wirt Josef Lentsch vom Gasthof Zur Dankbarkeit in Podersdorf. Nicht als Heimstatt der Camper und Radler solle man das Burgenland sehen, hat der Wiener Journalist Christian Seiler gefordert, sondern als östliche Camargue und kulinarisches Breughel-Gemälde. Herr Lentsch sieht das distanzierter: "Die Österreicher hätten doch lieber Südtirol behalten als uns bekommen."

Lange her. Doch die k. u. k. Monarchie existiert noch in verträumten Resten. Ein strahlender Herbsttag in Eisenstadt. Vereine und Würdenträger marschieren vors Schloss Esterházy, im Hof zücken Husaren ihre Säbel vor Anton II. Esterházy, der das Reiterregiment von 1741 vor vier Jahren wieder gegründet hat. Oben im Prunksaal erklingt Haydns Abschiedssinfonie. So ähnlich war das wohl, als in Wien und Budapest der Kaiser regierte, aber dazwischen Esterházy. Franz Joseph Haydn hielt man sich als Kapellmeister.21 Schlösser, 60 Marktflecken, Hunderte von Dörfern, 360 000 Hektar Land, kein Wunder, dass ein Esterházy die von Napoleon angetragene ungarische Königskrone als popelig zurückwies. Das Königreich hatte er schon, im Eisenstädter Schloss bewohnte er 256 Zimmer. Nach dem Krieg hat sich die Familie einschränken müssen. Diesseits des Eisernen Vorhangs verblieben 44 000 Hektar, 10 000 davon wurden ans Volk verteilt, aber auch das reicht noch für fast ein Achtel des Burgenlandes und die Hälfte des Neusiedler Sees. Alleinerbin Melinda EsterházyOttrubay, 83 und Ex-Ballerina der Budapester Oper, ist eine der reichsten Frauen Österreichs, allerdings nicht mit 1,2 Milliarden Euro, wie verbreitet worden ist, sondern nur mit 450 Millionen, wie Neffe Stefan Ottrubay korrigiert. Der größte Teil steckt in Stiftungen.

Das Imperium wirkt heute mit dezenter Zurückhaltung, der Tourist wird höchstens mit Rostbraten Esterházy an die Vergangenheit erinnert und mit den Weinen vom Schloss. Eine Rebenlandschaft. Rings um den See reiht sich ein Rebstock an den anderen; so viel kann man im Leben nicht saufen, um all die Sorten und Jahrgänge von mehr als 2000 Weinbaubetrieben zu verkosten. Der edelsüße Ruster Ausbruch zum Beispiel gehört zu den weltbesten Weinen. Alois Kracher und Josef Umathum drüben im Seewinkel sind Medienstars, ihre Preise so saftig wie ihre Produkte.Aber es gibt auch Quereinsteiger wie Günther Schönberger, der 1992 in Mörbisch bei null anfing und vorher Deutschrocker bei der Ersten Allgemeinen Verunsicherung war, bis ihm die Fragen nach Drogen und Sex zum Hals heraus- hingen. Nur für den Besucher und natürlich seine Kinder greift er mal zum Tenorsaxofon, und man weiß nicht, was man mehr loben soll, seine Musik oder seine biologisch-dynamisch angebauten Weine. Als Spinner wurde er anfangs abgetan, und Ähnliches gilt wohl für Leo Hillinger, dessen Vater noch Weinhändler war und der wie Schönberger gemerkt hat, dass mit Spätlesen zu Discountpreisen und dem Absturz nach dem Glykol-Skandal von 1985 keine Kasse mehr zu füllen war.

Hillinger hat sich in Kalifornien, Südafrika, Australien umgesehen und im Mai ein modernes Weingut mitten in die Reben gestellt, das man beim ersten Besuch für eine Trafostation halten kann. Viel Glas, selbst nachts strahlt es hell vom Berg. Darin steht der blondierte Hillinger und sagt über Traditionalisten, Gewölbe und Säulen: "Was für ein Scheiß, ich will mich nicht hinter Fassaden einmauern." Er verkauft Kugelschreiber, T-Shirts und Caps mit dem Hillinger-Signum, der Laden läuft.Die Moderne zieht ein ins Burgenland, mit Designer-Vinotheken wie dem Weinwerk in Neusiedl und Restaurants wie der Mole West auf Stelzen mitten im See. Hypermoderne Architektur, für den Koch Walter Eselböck in Schützen ein Graus. Sein Taubenkobel ist das beste Restaurant östlich Wiens. Ich probiere geschmorten Saibling und höre Eselböck eine Zukunft bekritteln, die seiner Meinung nach keine ist. "Da stehen die Winzer in Dolce & Gabbana in ihren Kellern herum", sagt er kopfschüttelnd. Und bei Sprüchen wie "Ich mache Monumente und keine Weine, die zum Essen getrunken werden", kriegt er zu viel.Lauschen wir in Zagersdorf einer der Tamburica-Gruppen, von denen es im Burgenland mehr als 30 gibt. Beim ersten Mal kann man ihren Gesang noch für ungarisch halten, aber es sind Kroaten, schon seit den Türkenkriegen im Land. Sie singen "Marica moja" (Meine Marica) oder "Sve Ptiàice" (Alle Vöglein), spielen auf der mandolinenähnlichen Tambura und haben sich trotz Nationalwahn und Anpassungsdruck gehalten, mit rund 20 000 stellen sie fast zehn Prozent aller Burgenländer.

Ein Vielvölkerland, neben den Kroaten noch Ungarn, Slowaken, Juden, Sinti und Roma; viele davon sind verschwunden, aber in der Musik des Geigers Toni Stricker klingt das alles noch einmal auf. Pannonien, so hieß das hier als römische Provinz, ein kulturelles Sammelsurium, reichte so weit wie die k. u. k Monarchie.Pannonien ist ein Lebensgefühl, beflügelt von Musik und Wein. Durch die Erdkrümmung, sagt der Herr Lang, sei der 36 Kilometer lange Neusiedler See in der Mitte 27 Meter (!) höher als am Nord- und Südufer. Nach einer Flasche roten Zweigelts lege ich mich am Hafen von Breitenbrunn flach auf den Boden. 27 Meter? Man sieht nix.

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Wolf Thieme

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