Als die Fähre anlegt, gießt es in Strömen, doch es regnet noch längst nicht genug. Hinter dem Vorhang aus Wasser kann man einen Urwald erkennen, bestehend aus Mobilfunkantennen, und einige Gebäude, die den Charme von Schuhkartons haben. Sicher, es ist auch ein schöner alter Hafen auszumachen und eine monumentale Trutzburg. Aber auf den ersten Blick wirkt die türkische Ägäis-Insel Bozcaada - sprich Bossdscha Ada - nicht wirklich vielversprechend. Ihr Name bedeutet "graue Insel", und das scheint auch Programm zu sein.
Wir fahren ins Hotel etwas außerhalb des Städtchens. Während der Regen aufs Dach prasselt, essen wir gegrillte Dorade. Sie schmeckt zwar gut, kann uns aber nicht aus der Tristesse befreien, die einen überfällt, wenn es am Mittelmeer regnet, aber hier noch mehr als anderswo. Wir kriechen ins Bett und denken ans Abreisen.
Doch dann kommt alles anders. Als wir am nächsten Morgen aufwachen, scheint die Sonne. Der Strand vor unserem Hotel ist einsam, das Meer schimmert türkisfarben, und der matschige Klumpen Erde hat sich über Nacht verwandelt in eine Insel von windzerzauster und karger Schönheit.
Eismeer oder nördliche Ägäis?
Im Hotelteich schwimmen dicke Schildkröten, Enten und Gänse watscheln an uns vorbei, und riesige, aber liebe türkische Hirtenhunde bewachen eine kleine Ziegenherde. Beim Frühstück kosten wir zunächst äußerst zurückhaltend von der Tomatenmarmelade, einer örtlichen Spezialität, die wider Erwarten ziemlich gut schmeckt und vor allem nicht nach Tomaten. Als wir im kristallklaren Wasser schwimmen gehen, werden wir von einigen Einheimischen fassungslos betrachtet. Die nördliche Ägäis ist zwar längst nicht so kalt wie Nord- oder Ostsee, aber auch keine Badewanne, weswegen viele Türken, gewöhnt an die Temperaturen von Bodrum oder Antalya, sie für eine Art Eismeer halten. Danach fahren wir durch Weinberge zurück ins Städtchen.
Der Antennenwald und die Scheußlichkeiten aus Beton waren leider keine optischen Täuschungen; wir denken mit warmer Zuneigung an Dynamit. Doch unterhalb dieser Architekturfurunkel befinden sich kopfsteingepflasterte Gassen mit weiß getünchten Häusern, Holzgiebeln und bunten Fensterläden. Auf den Mauern sonnen sich dicke Katzen, dahinter sind wunderschöne Gärten auszumachen.
Alle Wege führen zur Ägäis. Mal gelangt man zum Postkarten-Hafen, wo Boote in den Wellen schaukeln, Fischer ihre Netze flicken und ihren Fang zum Verkauf anbieten und es aus den Restaurants nach Thymian und Rosmarin duftet. Mal gelangt man zum Café Marti, wo wir in Sessel mit Meer- und Burgblick plumpsen, gegrillte Tintenfische essen und uns diesem Gefühl hingeben, das die Türken "keyif " nennen: Die Zeit steht still, die Seele rekelt sich, die Gedanken baumeln irgendwo ungeordnet herum. Die Kinder schwimmen, wir lesen Krimis und sind rundherum glücklich.
Stunden später erwachen wir aus unserer Lethargie und besuchen das örtliche Museum, gelegen in einem alten Steinhaus. Dort erfahren wir, dass Bozcaada, von den Griechen Tenedos genannt, schon von Homer erwähnt wurde: Hier versteckten Odysseus und seine Freunde ihre Flotte hinter Felsen, nachdem sie ihr Holzpferd auf dem anatolischen Festland in Troja genau gegenüber zurückgelassen hatten.
Nahtstelle zwischen Orient und Okzident
Seither ist reichlich Unglück über die Insel hereingebrochen: Weil sie vor den Dardanellen liegt, jener anderen Meerenge, die das Schwarze Meer neben dem Bosporus mit dem Mittelmeer verbindet, wollte jeder sie haben. Es kamen und gingen die Griechen, die Phönizier, die Perser, die Heerscharen Alexanders des Großen, Byzantiner, Türken, Genueser, Venezianer, dann wieder die Türken, 1912 erneut die Griechen, und im Ersten Weltkrieg Briten und Franzosen. Ein ums andere Mal wurde die Bevölkerung vertrieben.
Seit 1923 gehört die Insel zur Türkei, was wieder einen Exodus zur Folge hatte: Von den 5000 Griechen, die einstmals hier lebten, sind gerade mal zehn übrig geblieben. Seit der letzte Pope der orthodoxen Kirche vor fünf Jahren starb, öffnet sie nur noch einmal im Jahr, wenn am 26. Juli auf Bozcaada geborene Griechen aus aller Welt zurückkehren auf diese Nahtstelle zwischen Orient und Okzident, um mit den Muslimen während des Ayazma-Festivals in Nostalgie zu schwelgen. "Wir lebten wie Brüder und Schwestern zusammen", sagt traurig ein alter Türke, der vor dem Museum in der Abendsonne sitzt.
Aus einem Lautsprecher ertönt dazu noch ein "Rembetiko", der Blues der Griechen aus Kleinasien. Wir folgen seinem wehmütigen Ruf, bis wir im Restaurant Sandal landen. Nach der 1001. Vorspeise nebst Rotwein von der Insel, die wir gestern noch so dringend verlassen wollten, verstehen wir, warum so viele Istanbuler ihr verfielen und sich hier niederließen.
Neuanfang mit Aussteigern
Es waren Aussteiger, die in den vergangenen 20 Jahren den Niedergang Bozcaadas nach dem Weggang der Griechen stoppten. Resit Soley zum Beispiel, der einst Stararchitekt am Bosporus war und heute Eigentümer der Firma Corvus ist, die mit die besten türkischen Weine produziert. Oder der Museumsdirektor Hakan Gürüney, eigentlich Computerfachmann, der 1992 nur kurz kommen wollte, um zu tauchen und Muscheln zu sammeln, stattdessen blieb und alsbald nicht nur Muscheln sammelte, sondern "alles, was mir über die Geschichte der Insel in die Finger kam". Und Özcan Germiyanoglu, die 30 Jahre mit behinderten Kindern in Deutschland arbeitete, Istanbul nach ihrer Rückkehr in die Türkei unerträglich fand und seither eine Pension und Galerie auf der Insel betreibt.
Die nächsten Tage verbringen wir hauptsächlich damit, auf das Schönste herumzuhängen, und haben dabei kein schlechtes Gewissen, denn die Zahl der Sehenswürdigkeiten ist glücklicherweise begrenzt. Außer dem Museum muss man nur die mächtige Burg aus byzantinischer Zeit besichtigt haben, die von allen Eroberern Bozcaadas immer wieder erst zerstört, dann neu aufgebaut wurde, und schwindelerregende Blicke aufs Meer bietet.
Wir faulenzen an einsamen Stränden und in Cafés. Derart entschleunigt, nehmen wir an unserem letzten Abend an einem Inselritual teil und picknicken bei Sonnenuntergang in Poyraz, wo sich eines der größten Windkraftwerke der Türkei befindet. Hinter uns knattern die Turbinen, vor uns liegt ein Schiffswrack, umtost von Wellen, verbunden mit dem Festland durch ein rostiges Kabel. Inmitten dieses Destroy-Dekors werden Brot, Oliven und Käse verspeist, während die Sonne vom blutroten Himmel ins Meer plumpst.
Erstaunlicherweise finden wir das Ganze schön; die bizarre Idylle passt zu dieser Insel mit ihrem schrägen Charme. Als wir am nächsten Tag zurück aufs Festland fahren, betrachten wir voll Wehmut den Antennenwald und sehnen uns zurück.
Teil 4 der Mittelmeer-Serie lesen Sie am kommenden Wochenende: "Griechenland - Fähre? Nö, wir schwimmen"
Tipps und Adressen | |
Anreise | Mit dem Flugzeug nach Istanbul oder Izmir (ab 250 Euro). Von Istanbul mit dem Auto bis Eceabat, dort mit der Fähre die Dardanellen nach Canakkale überqueren. Dann weiter bis Geyikli (insgesamt 350 Kilometer). Von hier aus 35-minütige Fährfahrt nach Bozcaada. Von Izmir aus mit dem Mietwagen via Ayvalik und Edremit nach Geyikli (280 Kilometer). Den Fährenfahrplan Geyikli-Bozcaada sowie weitere Infos findet man auf www.bozcaadarehberi.com/ln-en. Außerdem fahren Busse von Istanbul und Izmir nach Bozcaada. |
Unterkunft | Die Pension Rengigül, Atatürk Caddesi, liegt im griechischen Viertel, hat fünf verwunschene Zimmer (25 bis 35 Euro), eine kleine Bibliothek und einen Garten, Tel.: 0090/28 66 97 81 71, www.rengigul.net. Das Hotel Kaikias, Kale Arkası Mevkii, liegt hinter der Burg und schwelgt in gemütlicher Griechen-Nostalgie. Zimmer 52 bis 109 Euro. Tel.: 0090/28 66 97 02 50, www.kaikias.com. Das Çapraz, Çapraz Mevkii, ist etwas unpersönlich, aber es liegt am Strand - mit Pool und einem kleinen Zoo. Tel.: 0090/28 66 97 02 88, www.capraz.com.tr/eng |