Skiurlaub in der Schweiz Piste frei bis in den Mai

Von Johannes Schweikle
Wer auf den letzten Drücker noch Skiurlaub machen will, ist im Schweizer Sils-Maria bestens bedient. Egal, ob Langläufer oder Abfahrer.

Franziska nennt keine Namen. "Es gibt Gäste", sagt die Skilehrerin, "bei denen siehst du gleich in der ersten Stunde: Das wird nix." Denen möchte Franziska Beuchat am liebsten vom Berg abraten. Und sie ins Tal schicken. Raus aus den schweren Alpinskistiefeln, rauf auf die schmalen Langlauflatten. Aber das ist nicht ohne. Ein Lächeln legt Grübchen in die Wangen ihres winterfrischen Gesichts, sie sagt: "Das muss man sich gut überlegen, ob man jemand zum Langlaufen rät. Manche reagieren da beleidigt." Als ob man sie aufs Altenteil abschieben möchte.

Franziska Beuchat arbeitet als Skilehrerin in Sils-Maria im Engadin. Sie ist 25 Jahre alt, drahtig, ihr dunkelblondes Haar hat sie zu einem französischen Zopf geflochten. Franziska gibt Kurse für Langläufer und alpine Skifahrer, und eigentlich sind die Gäste dumm, die ihren Rat nicht hören wollen. Denn in den ganzen Alpen gibt es nur wenige Orte, in denen die beiden Welten des Skisports so wunderbar harmonieren. Am Berg toben sich Snowboarder und Skifahrer aus, im Tal finden Skater und klassische Langläufer endlos lange Loipen. Familien wissen das zu schätzen. Es erspart ihnen Konflikte.

Das Tal liegt hier etwa 1800 Meter hoch und besteht im Sommer aus vier Seen. Ab Dezember wächst auf ihnen eine stabile Eisdecke, und wenn darauf Schnee fällt, wirkt das Oberengadin wie mit einem frischen Leintuch bespannt. Das Hochtal ist weit und hell, an den Rändern zieht der Bergwald dunkle Konturen, darüber wird's wieder weiß, von der 4049 Meter hohen Piz Bernina funkelt Gletschereis. Weil das Tal so breit ist, wirken die himmelragenden Felswände nicht einengend. Berg und Tal bilden hier einen solch freundlichen Kontrast, als wäre diese Landschaft eigens für das Vergnügen von Winterurlaubern erschaffen worden.

Eine andere Welt

Franziska Beuchat hat heute die schmalen Ski angezogen und läuft ins Fextal. Das liegt nur gute zehn Kilometer von St. Moritz entfernt, führt aber in eine andere Welt. Neben der Loipe fließt der Bergbach, Pferdeschlitten bimmeln, die alten Häuser sind mit Steinplatten gedeckt. Mit den frisch verzuckerten Ästen der Lärchen wirkt das Seitental wie ein altes Schwarz-Weiß-Foto. Wer mit dem Auto in dieses Idyll fährt und keine Genehmigung hat, zahlt 150 Franken Strafe.

Federnd leicht stößt sich die Skilehrerin in der Loipe ab. Auch bergauf hält sie ihre Ski in der Gleitphase, die Arme schwingen dynamisch im Rhythmus. Wer den Langlauf als Altherrensport belächelt, der sollte mal ins Fextal. Kurze Anstiege wechseln ab mit kniffligen Abfahrten, Kondition und Technik sind in gleichem Maße gefordert. "Meine übelsten Stürze hatte ich beim Langlaufen, nicht beim alpinen Skifahren", sagt Franziska, als wieder eine flache Gleitpassage kommt. "Bei der Abfahrt hinunter zum Silser See bin ich auf eine Eisplatte gefallen, da war die rechte Seite von der Wade bis zur Schulter blau."

Unter ihren Skischülern mag Franziska Beuchat die Langläufer lieber. "Das sind echte Sportler. Und die sind dankbar, wenn man ihnen etwas zeigt." Bei den Alpinen dagegen "gibt es viele Bornierte", sagt sie. Und Komplizierte dazu. In ihrem ersten Winter gab sie dem Sohn von Didi Hallervorden Unterricht. Der Vater rief vorher ein paarmal an, ließ seinen Sprössling keinen Meter aus den Augen. Franziska: "Im richtigen Leben ist der nicht so lustig."

Der Geheimtipp

Sils-Maria gehört zu den schönsten Dörfern im Engadin. Die alten Häuser sind noch mit den typischen Sgraffito- Mustern verziert, die schmale Dorfstraße ist verkehrsberuhigt, sodass man gefahrlos das Barometer an der verschnörkelten Wetterstation ablesen kann. Gegenüber steht das kleine Haus, in dem sich der berühmteste Gast des Ortes für mehrere Sommer eingemietet hat. Der Denker Friedrich Nietzsche (1844-1900) hat hier einige seiner berühmten Werke geschrieben. Seither ist Sils-Maria der Geheimtipp für Intellektuelle und Individualisten. Die Schriftsteller Thomas Mann und Hermann Hesse haben hier Urlaub gemacht. Sie sind im Hotel Waldhaus abgestiegen, das den Ort wie ein zinnenbewehrtes Schloss überragt. Vor genau hundert Jahren wurde es als Gegenentwurf zu den Grandhotels von St. Moritz gebaut. Es verweigert sich dem Mondänen und bietet seinen Gästen stattdessen eine Mischung aus Luxus und Warmherzigkeit.

Familie Harms aus Hamburg gehört seit mehr als 20 Jahren zu den Stammgästen im Waldhaus. Sie schätzt den Service des Hauses - das Hotel lagert die Skiausrüstung bis zum nächsten Winter ein. Vor allem aber erspart ihnen dieser Urlaubsort Konflikte. Anke Harms, die Mutter, schnallt die Langlaufski an. Ihr Sohn John sagt dagegen mit dem ganzen Widerwillen eines 16-Jährigen: "Nee - da latscht man so in der Ebene rum." Er geht mit seinem Vater Snowboarden. Und seine Schwester Julia, 14 Jahre alt, entscheidet sich mehrmals im Urlaub um. Sie schwankt zwischen alpinem Skilauf und Skating.

Mutter und Tochter sind sich immerhin in einem Punkt einig: Sie bevorzugen die flachen Loipen auf den Seen, je nach Windrichtung und Kondition die sechs Kilometer bis Maloja oder aber zur anderen Seite nach St. Moritz und Pontresina. 180 Kilometer Loipen sind im Angebot, der Einstieg liegt gleich zu Füßen des Hotels. Und am Ortsrand startet die alpine Fraktion in ihr Vergnügen. Die Furtschellas-Bahn ist der clevere Seiteneingang zum riesigen Skigebiet rund um St. Moritz, das 350 Pistenkilometer bietet.

Der Engadin Skimarathon

Die Furtschellas-Bahn hat mehrere Vorzüge. Hier bilden sich kaum Schlangen. Und man ist schnell oben auf dem Corvatsch, wo eine Aussichtsplattform in 3303 Meter Höhe das spektakulärste Panorama des ganzen Engadin bietet. Im Osten leuchtet der Bianco-Grat, Richtung Westen sind die Gipfel so zahlreich wie die Wogen des Meeres, und über dem wild gefurchten Gebirge schweben Wolkengebilde, die aussehen, als ob ein Comiczeichner beim Üben wäre.

Jeden zweiten Sonntag im März sind die Langläufer sogar aus der Alpinen-Perspektive vom Corvatsch aus zu sehen. Dieses Jahr kamen mehr als 11.000 Sportler zum Engadin Skimarathon. Von Maloja wuselt eine dunkle Ameisenstraße über den weißen Talgrund, verschwindet im Stazer Wald (der berüchtigt ist für die Stürze in der Abfahrt) und schlängelt sich 42 Kilometer weit bis zum Ziel in S-chanf.

An Marathon-Sonntagen wird auch im feingeistigen Hotel Waldhaus das Frühstück eine Stunde früher serviert. Um sechs Uhr liegen dann Bananen und Müsliriegel auf dem Büfett, und der Hoteldirektor verabschiedet alle Starter unter seinen Gästen mit Handschlag in die frühmorgendliche Kälte.

Der Skimarathon wurde hier 1969 zum ersten Mal ausgetragen. Mittlerweile ist er die größte Wintersportveranstaltung der Schweiz. Die Skilehrerin Franziska Beuchat ist mit 17 Jahren zum ersten Mal mitgelaufen. Inzwischen hat sie ihre Bestzeit auf 2:30 Stunden gedrückt.

Doch den Rekord von Françoise Stahel kann sie nicht mehr erreichen: Die Französin war seit 1969 jedes Mal am Start. Dieses Jahr ist sie beim Halbmarathon angetreten und hat wieder, mittlerweile 71-jährig, das Ziel erreicht.

Nur einmal musste sie improvisieren. 1991 gab es kurz vor dem Rennen einen Wärmeeinbruch im Engadin. Das Eis der Seen war zwar noch dick genug. Aber darauf lag kein Schnee mehr, vielmehr stand das Wasser in knöcheltiefen Pfützen. Der Marathon wurde abgesagt. Da ging die Langläuferin Françoise Stahel fremd. Sie schnallte die Alpinski an und fuhr auf der Diavolezza.

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