Trotz seines starken Motors stampft das Lotsenboot im Golf vor Triest nur mühsam durch die See. "Bora", der Sturm aus Ost-Nordost, stürzt sich von den Höhen des Karsts wie ein Raubtier auf die Hafenstadt an der Adria und beugt dabei alles und jeden seinem Willen. Wenn er Regen bringt wie heute oder im Winter den Schnee, nennen ihn die Triester "Bora nera" - und dann quellen in der 240 000-Einwohner-Stadt die Abfalleimer über mit tödlich verrenkten Schirm-Skeletten.
Die Männer an Bord des Lotsenbootes geben sich unerschütterlich. Fabio, Marino und Dario von der Triester Lotsen-Crew schleusen mit drei Booten rund um die Uhr Frachtschiffe aus aller Welt ins Hafenbecken: Öltanker aus Nigeria, Kartoffel-Frachter aus Ägypten oder Lastschiffe voll Zement, wie jenen Koloss aus Portugal, der die Lotsen gerade um Hilfe angefunkt hat.
Der Fallwind ist so heftig, dass er die Gischt zu einem hauchfeinen Tröpfchennebel zerstäubt. Darin erhebt sich die dunkle Silhouette des Portugiesen-Frachters. Marino steuert sein Boot gegen die Macht der Wogen so nahe an den Bauch des Monsters, dass einem der Atem stockt. Dario, ein stämmiger Anfangfünfziger, klammert sich an die Reling, bis er die Stahlleiter am Rumpf des Frachters zu fassen kriegt. "Ciao!", brüllt er noch und hievt sich hinauf. Marino grinst: "Auch wenn ihr's nicht glaubt: Triest gehört zu den drei Städten Italiens mit den meisten Sonnentagen im Jahr."
In der Einsatzzentrale beim Leuchtturm am Ende der Triester Uferpromenade wird später "caffè mit Schmier" verteilt, ein brühheißes Gebräu aus Espresso und Grappa, das den Magen in Flammen setzt und dessen schlaffere Version in Rest-Italien als "caffè corretto" bekannt ist. "Die k. u. k. Überbleibsel in unserem Wortschatz", lacht Fabio, "sind einfach nicht auszurotten." Wie "Koffer" und "Witz". Mit beidem war das einstige Fischerstädtchen Triest, das unter den Habsburgern zur Handelsmetropole der Donaumonarchie aufstieg, reichlich ausgestattet. Nach den Wirren des Zweiten Weltkriegs vegetierte die Stadt lange als Endstation vor Titos Schlagbaum, bevor sich der für immer hob. Seither versucht die karstumklammerte Schöne, den Staub jener Jahre abzuschütteln, und hofft auf ihre zweite historische Chance als florierende Hafen- und Kulturstadt an der Schwelle zwischen Ost- und Westeuropa.
Inmitten schnarrender Funkgeräte und blinkender Monitore erzählen Fabio und seine Kollegen von ihrem Triest, dem Vielvölker-Laboratorium aus Istriern, Italienern und Slowenen, von den griechischen, serbischen, ungarischen oder österreichischen Wurzeln ihrer Bewohner. "Kaum einer von uns", sagen sie, "kann einen lupenreinen Stammbaum vorweisen." Vielleicht leben die Triester heute deshalb so unangestrengt miteinander, dass selbst Rabbi Ariel Haddad, der Leiter des jüdischen Museums, findet: "Triest hat das Zeug, zur Modellstadt des Austauschs der Kulturen und Religionen in Europa zu werden."
Im Quartier der Lotsen gibt es noch andere Geschichten zu hören. Etwa von Triest als Drehkreuz dunkler Geschäfte, wo auch Waffen und Drogen umgeschlagen werden, wo Menschenschmuggler mit ihrer Flüchtlingsfracht durchziehen und Kriegsgewinnler vom Balkan mit ihrer Beute. Und während draußen das Meer noch immer tobt, erklären sie die sieben Winde ihrer Stadt, vom schwülen Schirokko bis zur kühlen Bora, die wie eine riesige Umwälzpumpe das obere Adria-Becken reinigt und den Triestern großzügig Sardinen, Makrelen und Meeresheuschrecken beschert.
"Triest und Berlin sind sich ähnlich", sagt Veit Heinichen, "Grenzstädte zwischen den Welten, die sich neu definieren mussten, als der Eiserne Vorhang fiel und sich im Osten ein neues Hinterland auftat." Es ist früher Nachmittag auf der "Piazza Unità d'Italia", dem wiedererstrahlten Logenplatz von Triest. Auf drei Seiten von klassizistischen Palästen umringt, gibt er an seiner Stirnseite den Blick aufs Mittelmeer frei - wie auf eine Theaterbühne. Die Menschen genießen den sonnigen Frühlingstag bei "Campari Spritz", Himmel und Wasser wetteifern um makelloses Blau, kein Lüftchen weht. Heinichen, 49, kennt sich aus mit Grenzstädten: aufgewachsen im Dreiländereck des deutschen Südwestens, später Karriere als Verlagsmanager in Berlin. Nach knapp zwei Jahrzehnten Pendelbeziehung ist er seit 1999 Wahltriester mit weißer Holzvilla hoch über der malerischen "Strada Costiera" und Blick über den Golf.
Heinichen und Triest, das ist eine obsessive Liebe. Ihr hat der Deutsche inzwischen vier - auch in Italien - erfolgreiche Kriminalromane gewidmet. Sein Alter Ego, ein witzig-widerborstiger Commissario namens Proteo Laurenti, blickt darin in die Abgründe der Stadt - und kann sich doch immer auch ihren lebensfrohen Seiten ergeben. Das Duo Heinichen/Laurenti bohrt tief in authentischen Wunden und Winkeln Triests: etwa seiner unaufgearbeiteten Vergangenheit aus gegenseitiger Vertreibung und Ermordung in den 1940er und -50er Jahren, an der erst italienische Faschisten beteiligt waren, dann deutsche SS und zuletzt jugoslawische Partisanen. Oder der neuen Kriminalität, die Triest nach Mauerfall und Balkankriegen als Durchlaufstation missbraucht, weshalb Heinichen seinen Commissario so realitätsnah ermitteln lässt, als hätten die Lotsen unter dem Leuchtturm den Plot geliefert.
"Der Kriminalroman ist das ideale Transportmittel, die Gegenwart zu erzählen", sagt Heinichen, "und Triest mit seinen Kontrasten eignet sich dafür ideal." Seit zwei der Heinichen-Krimis mit Starbesetzung für die ARD verfilmt wurden - am Pfingstsonntag wird Henry Hübchen als Proteo Laurenti seinen ersten Fall lösen× -, spielt der Autor oft den Reiseführer für Journalisten, die sich von der Authentizität seiner Stoffe überzeugen wollen.
Also flaniert er mit den Gästen über die elegante Uferpromenade zum Canal Grande mit den byzantinisch angehauchten Palästen serbischer und griechischer Kaufleute, die Triests Aufstieg begründeten. Spaziert vorbei an den Jugendstilbauten der Versicherungsriesen, die heute über die Stadt herrschen. Im Borgo Teresiano mit seinen schnurgeraden Straßen gibt es einen Kurzvortrag über die "geniale stadtplanerische Leistung" von Kaiserin Maria Theresia. Und am Bronze-Standbild des Iren James Joyce, der im Exil an der Adria Teile seines "Ulysses" schrieb, einen amüsanten literaturhistorischen Abriss über das Triest von Svevo, Saba, Joyce und Rilke.
Vom Hügel des Kastells San Giusto über dem römischen Amphitheater dann ein Blick auf die Zeugnisse der einst von den Habsburgern garantierten Religionsfreiheit: Da leuchtet die blaue Kuppel der serbisch-orthodoxen Kirche aus dem Häusermeer, daneben die mächtige Synagoge und vorn am Meer das Gotteshaus der griechisch-orthodoxen Gemeinde. "90 verschiedene Ethnien leben in der Stadt ohne große Spannungen zusammen", sagt der Autor. "Ein Wunder."
Glücklicherweise hängen Heinichen/Laurenti zwischendurch gern mal in der Osteria "Da Giovanni" ab, istrische Küche mit den besten marinierten Sardinen in der Altstadt. Oder sie verdrücken zu Mittag einen Teller im rappelvollen "Buffet da Pepi", wo sich Eisbeine, Prager Schinken und Kaiserfleisch zu dampfenden Bergen häufen - unter dicken Lagen frisch gehobelten Meerrettichs, der hier Kren heißt. Noch so ein k. u. k. Relikt, wie auch die Triester Kaffeehauskultur: Von jeher hält die Kulturelite der Stadt etwa im "Caffè Tommaseo" Hof, unter barbusigen Jugendstilschönen aus Stuck. Oder im "Caffè San Marco" auf schwarzen Ledersofas unter Art-déco-Lampen, wo Claudio Magris, Triests letzter, großer Philosoph, am Stammplatz über die Weltenläufte und Heinichen/Laurenti über ungelöste Fälle sinnieren.
Tipps
Anreise
Mit Lufthansa/Air Dolomiti ab München, Ryanair von Frankfurt/Hahn (www.ryanair.com) direkt nach Triest, mit Hapag Lloyd Express (www. hlx.com) nach Venedig oder Rijeka, weiter mit Bus, Bahn oder Auto.
Vorwahl: 0039/040/
Übernachten
Grand Hotel Duchi d'Aosta,
Piazza Unità d'Italia 2-1, Tel.: 760 00 11, Fax: 36 60 92, DZ ab 314 Euro. Der Palast mit Blick auf die schönste Piazza Triests ist teuer, aber umwerfend. In den mit edlen Antiquitäten, Lüstern und Ölgemälden ausgestatteten Räumen fühlt man sich wie Kaiserin Maria Theresia.
Hotel Riviera,
Strada Costiera 22, Tel.: 22 45 51, Fax: 22 43 00, DZ ab 125 Euro. Das traumhaft an der Küste gelegene Haus gehört zur gleichen Gesellschaft wie das Grand Hotel. Infos für beide: www.magesta.com
Hotel James Joyce,
Via Cavazzeni 7, Tel.: 31 10 23, Fax: 30 26 18, DZ ab 80 Euro, kleines Künstlerhotel mit viel Boheme in der Altstadt. www.hoteljamesjoyce.com.
Villa Fausta,
Bed & Breakfast, Salita Gretta 5, Tel./Fax: 41 52 52, DZ/F ab 60 Euro. Nicoletta Bottiglioni hat ihre Dichtervilla (Foto links) liebevoll renoviert und ein Doppelzimmer sowie die Mansarde für Gäste ausgebaut. www.bedandbreakfastfvg.com
Essen und Trinken
"Buffets"
, rustikale, familiengeführte Lokale, wo man auf die Schnelle Hausmannskost und Wein vom Fass am Tresen bekommt. Tellergerichte ab 10 Euro. Am Wochenende geschlossen.
"Da Giovanni"
in der Via San Lazzaro 14 und
"Da Pepi"
, Via Cassa di Risparmio 3, sind die typischsten.
Scabar
, Erta Sant' Anna 63, Tel.: 81 03 68, Fax: 83 06 96, Menü um 60 Euro, Mo. geschl. Ami Scabar komponiert die aufregendste Fischküche weit und breit, Bruder Giorgio die spannende Weinkarte. Oberhalb der Stadt gelegen, Anfahrt am besten mit dem Taxi vom Zentrum (ca. 7 Euro). Reservieren! www.scabar.it.
Osteria il Pettirosso,
Santa Croce, Tel.: 22 06 19, Menü um 30 Euro, Do. geschl., gemütliches Wirtshaus im Dorf Santa Croce mit guter Fischküche.
Caffè Tommaseo,
Piazza Tommaseo, Tel.: 36 26 66,
Caffè San Marco,
Via Battisti 18, Tel.: 36 35 38.
Gran Malabar,
Piazza San Giovanni 6, Tel.: 63 62 26. Triests bestsortierte Weinbar.
Ausflüge
Abstecher auf den Karst mit Einkehr in eine der
"Osmize",
Buschenschenken zum Vespern und Degustieren beim Winzer. Die meisten liegen um die Weindörfer Prosecco und Prepotto (u. a. Weingüter Danilo Lupinc, Edi Kante, Benjamin Zidarich und Boris Skerk). Efeubüschel (Buschen) mit roten Holzpfeilen an den Straßenkreuzungen weisen den Weg. Wanderung auf dem altrömischen
Handelsweg "Gemina"
ab dem Triester Obelisken (Auffahrt mit der Standseilbahn von der Piazza Oberdan) über das hochgelegene Fischerdorf Santa Croce bis zum Schloss Duino (geöffnet von 9.30-17.30 Uhr).
Ansehen
Nationale
Gedenkstätte "Risiera di San Sabba"
im Stadtbezirk San Sabba, in dem die deutschen NS-Besatzer zwischen 1943 und 1945 ein Lager unterhielten und rund 5000 Menschen ermordeten. Via Palatucci 5, Tel.: 82 62 02, tägl. von 9-19 Uhr. www.risierasansabba.it
Information
Azienda di Informazione Turistica,
Via San Nicol˜ 20, Tel.: 679 61, Fax: 679 62 99, www.triesteturismo.com
Guide:
Oberitalien, Dumont Richtig reisen, 24,95 Euro.
Literatur:
Die Krimis von Veit Heinichen gibt es bei dtv.
Unverzichtbar ist die Fahrt hinauf auf den Karst, in dessen schroffen Felsspalten früher die Leichen der politischen Gegner verschwanden. Heute schenken lange verkannte Winzer in ihren "Ozmize", urigen Besenwirtschaften, zu herzhaftem Schinken ihre wunderbaren Weine aus: den weißen Vitovska etwa oder den roten Terrano. Zum lustvollen Pflichtprogramm gehört auch der Besuch bei Ami Scabar, im wahren Leben Heinichens temperamentvolle Lebensgefährtin. Im kühl-elegant umgestylten Gasthof ihrer Eltern bekocht sie ihren Veit und seine Gäste ebenso hinreißend wie im Buch den Commissario. "Es gibt keine Triester Küche", sagt die dunkelhaarige Ex-Managerin, "so wie es keine reinrassigen Triester gibt. Auch in unseren Töpfen mischen sich die Aromen des Mittelmeers mit denen der Donauländer, des Balkans und Arabiens."
Ob End- oder Zwischenstation: An der "Gran Malabar" auf der zierlichen Piazza San Giovanni führt kein Weg vorbei. Die Weinkneipe ist Treffpunkt, Nachrichtenbörse und "Sektenhochburg der Grenzüberschreiter", wie Walter Cusmich, der quirlige Wirt, sagt, bevor er eine Neuentdeckung köpft: "Chardonnay von JoÆko Renàel, slowenisches Grenzdorf, drei Schweine, zwei Barrique." An seinem Tresen wird heftig diskutiert über diese Stadt Triest, die ihre symbolische Kraft noch immer nicht begriffen hat, "weil sich eine unbewegliche, bürgerliche Oberschicht am Status quo festklammert", wie Stammgast Heinichen/Laurenti konstatiert. Auch Zukunftsprojekte werden hier geschmiedet: Wie man den Containerhafen in die erste Liga unter den europäischen Großhäfen hieven oder die heruntergekommene Speicherstadt im alten Hafen als Zentrum für Wissenschaft, Kultur und Tourismus wiederbeleben könnte. Walter Cusmich liefert den Stoff, der solche Träume beflügelt, während draußen der Maestrale auffrischt. Es ist der sanfte Wind aus dem Westen, der den Sommer bringt.