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Luftfahrt Verspätungen, Ausfälle und Chaos: Nicht in die Luft gehen

Luftfahrtkrise: So verraten Airlines ihre Passagiere
Höhepunkt des Chaos: Nach einer Sicherheitspanne musste vor zwei Wochen in München ein ganzes Terminal geräumt werden: Über 300 Flüge fielen aus. Aus Sicht vieler Reisender stellt sich die Häufung dieser und ähnlicher Situationen als Luftfahrtkrise dar
© Matthias Balk/DPA
Flugreisende erleben den Sommer des Schreckens: Jeden Tag fallen Hunderte Flüge aus, Tausende verspäten sich. Egal, ob Airline, Flughafen oder Sicherheit – keiner bekommt die Krise in den Griff.

Am Ende wird der vergangene Freitag ein eher guter Tag für Flugreisende in Europa gewesen sein – jedenfalls in diesem verrückten Sommer: 164 Flüge fielen aus, rund 7426 verspätete Flieger gab es laut Datenanbieter Flightglobal. Das waren nur halb so viele wie im Schnitt der katastrophalen vergangenen vier Wochen. Allerdings liegen ganz vorn auf der Rangliste der problematischsten Flughäfen Europas: Frankfurt, Berlin, Düsseldorf und München. Auf den letzten drei Airports hat sich der stern umgesehen.

Für Gabriele Ackermann war der vergangene Freitag ein echter Albtraum: Begonnen hatte der schon am Donnerstag um 17.45 Uhr. Da betrat sie die Halle des Flughafens Berlin-Tegel. Für ein paar Tage hatte sie ihren Sohn in Weißensee besucht, nun freute sie sich auf zu Hause. Sie lebt im württembergischen Lichtenstein, nahe Reutlingen. Dort arbeitet die Physiotherapeutin und kümmert sich nebenbei um ihre pflegebedürftige Mutter.

"Keiner hat uns irgendwie geholfen"

Ackermann ging zum Gate, wo der Easyjet-Flug nach Stuttgart abheben sollte. Doch EZY 5599 fiel aus. Am Schalter verwies man sie auf Flug EZY 5601 um 21.25 Uhr. Aber auch der verspätete sich – so sehr, dass ihn am Ende der Pilot absagte. In Stuttgart gilt ein Nachtflugverbot. "Bitte aussteigen", sagte eine Stewardess. "Es gibt keine Starterlaubnis mehr." Die Passagiere sollten sich ans Bodenpersonal wenden. Sie drängten raus, irrten durch den Flughafen. "Da war niemand. Keiner hat uns irgendwie geholfen", sagt Ackermann. Sie fragte ihren Sohn, ob sie noch mal bei ihm übernachten könne. Dann telefonierte sie mit ihrem Arbeitgeber. Und sie beruhigte ihre Mutter und bat die Verwandte, die die 89 Jahre alte Dame in Ackermanns Abwesenheit betreut hatte, noch einen Tag länger zu bleiben. Um 0.30 Uhr war Gabriele Ackermann wieder in Weißensee.

Vor dem Abflug: Passagiere auf dem Weg zu ihren Maschinen am Flughafen Berlin-Schönefeld
Vor dem Abflug: Passagiere auf dem Weg zu ihren Maschinen am Flughafen Berlin-Schönefeld
© Tom Maelsa/Imago

Am nächsten Morgen um 8.25 Uhr stand sie erneut in der Schlange vor dem Easyjet-Schalter. Knapp 30 Minuten später war sie an der Reihe. "Sie hätten doch den Ersatzflug um sechs Uhr nehmen können", sagte die Kundenbetreuerin leicht vorwurfsvoll. "Dafür hätten Sie aber um vier Uhr da sein müssen." Heute gehe nichts mehr, morgen vielleicht, sagte die Frau.

Gabriele Ackermann wollte einfach heim. Sie kaufte schließlich auf eigene Faust für 220 Euro ein neues Ticket bei Eurowings und hetzte zum Gate. Um 12.40 Uhr landete sie endlich in Stuttgart – fast 16 Stunden später als geplant. Mittlerweile hat sich Easyjet auf Nachfrage des stern per Formschreiben entschuldigt und Entschädigung angeboten.

Ähnlich wie Gabriele Ackermann geht es in diesem Sommer vielen Passagieren an deutschen Flughäfen. Besonders im Europaverkehr mit den vielen Billigfliegern, die inzwischen den Großteil dieser Strecken fliegen, gibt es Probleme. stern-Leser berichten von Direktflügen, die zu 24-stündigen Horrortrips wurden, von abgesagten Maschinen, von Jets, die nachts in Leipzig landen statt vormittags in Düsseldorf, und von alleinerziehenden Müttern mit Kleinkindern, die von ausrastenden Piloten aus überbuchten Flugzeugen gescheucht werden (die schlimmsten Fälle dokumentieren wir unter www.stern.de/fluchreisen).

Eigentlich wurde Gabriele Ackermann, 64, am vorvergangenen Freitag zu Hause in Lichtenstein bei Reutlingen erwartet: Sie musste sich um ihre kranke Mutter kümmern und am nächsten Morgen arbeiten. Weil ihr Flug mit Easyjet nach Stuttgart ausfiel, wurde daraus nichts. Schlimmer noch: Niemand half ihr am Flughafen oder informierte über Alternativen. Sie buchte auf eigene Faust neu.
Eigentlich wurde Gabriele Ackermann, 64, am vorvergangenen Freitag zu Hause in Lichtenstein bei Reutlingen erwartet: Sie musste sich um ihre kranke Mutter kümmern und am nächsten Morgen arbeiten. Weil ihr Flug mit Easyjet nach Stuttgart ausfiel, wurde daraus nichts. Schlimmer noch: Niemand half ihr am Flughafen oder informierte über Alternativen. Sie buchte auf eigene Faust neu.
© Holger Talinski/stern

Für Millionen Reisende wurde das Jahr 2018 so schon zum "annus horribilis" des Urlaubs. Und die Aussichten sind düster: Die Reisesaison ist auf dem Höhepunkt, und die Probleme der Flugbranche türmen sich immer weiter auf. Im ersten Halbjahr hat sich die Zahl der Flugausfälle gegenüber 2017 um rund 70 Prozent erhöht. Tendenz: schnell steigend.

Kommen wir überhaupt an?

Eine neue Angst vorm Fliegen breitet sich aus. Es geht nicht mehr um Leib und Leben. Doch die bange Frage von einst ist wieder da: Kommen wir überhaupt an? Ein bezahltes Ticket ist längst keine Garantie mehr dafür, überhaupt auch nur abzuheben.

Die Verspätungen und Ausfälle treffen in der Urlaubssaison oft unerfahrene Kunden in ihrer wertvollsten Zeit, den Ferien. Entsprechend groß ist der Ärger, aber auch die Hilflosigkeit. "2018 ist ein Katastrophenjahr", sagt Oskar de Felice vom Fluggastrechte-Portal Flightright. "Viele Fluggesellschaften haben sich übernommen und sind krass überfordert. Oft gibt es am Flughafen nicht mal jemanden, an den sich die Passagiere in ihrer Not wenden können."

Judith Knolhoff, 19, ist am vorvergangenen Freitag mit der polnischen LOT von Groningen zu ihrer gleichaltrigen Freundin Theresa nach München geflogen. Sie sollte um 11.20 Uhr ankommen, landete aber erst dreieinhalb Stunden später. Warum der Flug so eine Verspätung hatte, konnten ihr die Servicemitarbeiter am Flughafen auch nicht sagen.
Judith Knolhoff, 19, ist am vorvergangenen Freitag mit der polnischen LOT von Groningen zu ihrer gleichaltrigen Freundin Theresa nach München geflogen. Sie sollte um 11.20 Uhr ankommen, landete aber erst dreieinhalb Stunden später. Warum der Flug so eine Verspätung hatte, konnten ihr die Servicemitarbeiter am Flughafen auch nicht sagen.
© Sandra Steh/stern

Diese Woche drohen außerdem noch Streiks bei Ryanair, inzwischen mit mehr als 400 Maschinen eine der größten Airlines der Welt. Europaweit haben die Piloten des Preisbrechers auf dem Flugmarkt schon Urabstimmungen abgehalten, die durchweg mit über 90 Prozent Zustimmung zur Arbeitsniederlegung ausgingen. In Deutschland stimmten 96 Prozent für den Ausstand, bei dem es vor allem um die Arbeitsbedingungen der Crews geht. Das Ryanair-Management gibt sich derweil hart und schiebt die Schuld für Flugausfälle den Mitarbeitern zu. Vorstand Peter Bellew droht streikenden Piloten unverhohlen mit Strafversetzung und dem Abzug von Flugzeugen vom Standort.

Für Kunden der irischen Fluglinie verheißt die unversöhnliche Haltung nichts Gutes: Sie müssen sich auf stürmische Zeiten einstellen, wenn sie in den nächsten Wochen mit der Airline unterwegs sind.

So wie Mario Hoffmann: Der Kriminalbeamte aus NRW ist am Freitag von Düsseldorf aus mit Ryanair in den Urlaub gestartet und beobachtet die Situation leicht genervt: "Wir fliegen womöglich zum Streikbeginn zurück. Aber meine Frau und ich müssen am nächsten Tag wieder arbeiten. Wenn man heute mit dem Flugzeug verreist, hat man immer irgendwelche Sorgen."

Es liegt nicht nur an den Streiks

Ihre billigen Tickets könnten sich bei Streiks als wertlos erweisen, die Entscheidung, beim Kauf zu sparen, als teuer. Denn kurzfristiger Ersatz – so hat es auch Gabriele Ackermann in Berlin-Tegel zu spüren bekommen – ist kostspielig und meist schwer zu bekommen.

Aber die Streiks sind bei Weitem nicht der einzige Grund, wieso in Europas Luftfahrt momentan der Wurm steckt. So ziemlich alles läuft gerade schief. Egal, ob Flugzeughersteller, Airlines, Flughäfen, Sicherheitspersonal oder Flugaufsicht – alle sind schlecht auf den Passagieransturm vorbereitet. Dazu kommen steigende Spritpreise und der Höhepunkt der Reisesaison, bei dem sowieso regelmäßig die Kapazitätsgrenzen erreicht werden. Beides setzt Fluggesellschaften finanziell unter Druck.

Ein Bett am Flugfeld: In München werden Notbetten transportiert. Hunderte Passagiere mussten im Terminal schlafen
Ein Bett am Flugfeld: In München werden Notbetten transportiert. Hunderte Passagiere mussten im Terminal schlafen
© Lino Mirgeler/DPA

Der Spätsommer ist traditionell die Zeit, in der am häufigsten Fluggesellschaften pleitegehen, weil sie das Gros der Passagiere zu befördern haben, aber kaum neue Umsätze generieren. Tickets für den Herbst werden in der Urlaubszeit kaum verkauft. So war es im vergangenen Jahr auch bei der Fluggesellschaft Air Berlin, die am 15. August ihren Insolvenzantrag stellen musste. Damals löste sich Deutschlands zweitgrößte Airline auf, ging in Teilen an den Lufthansa-Konzern und dessen Tochter Eurowings sowie an Easyjet und den Unternehmer und Ex-Formel-1-Fahrer Niki Lauda. Der reichte die Mehrheit der neu gegründeten Laudamotion an Ryanair weiter.

Die neuen Eigentümer, das gab etwa Eurowings-Chef Thorsten Dirks später zu, haben die Integration der maroden Air Berlin unterschätzt. "Wir haben nicht immer die Qualität erbracht, die Sie von uns erwarten und wie wir sie auch von uns selbst fordern. Sie sind zu Recht unzufrieden, und wir sind es auch", so der Airline-Boss ungewohnt kleinlaut an seine Kunden.

Luftfahrtkrise: "Es wird schon irgendwie klappen."

Statt vorsichtig zu planen, versuchten alle Airlines, sich ein möglichst großes Stück vom Air-Berlin-Kuchen zu sichern, sich Landerechte zu schnappen, sogenannte Slots, und sich im Markt breitzumachen. Es war ein gnadenloser Verteilungskampf. Gierige Manager rangen um die Vorherrschaft auf Europas attraktivstem Flugmarkt: Deutschland.

An die Kunden dachte niemand. Es wurden Tickets verkauft in rauen Mengen – für Strecken, von denen absehbar war, dass die Maschinen wohl nie voll werden würden. Oder noch schlimmer: für Flüge, für die es weder Crews noch Flugzeuge gab. Alles garniert mit Knallerpreisen, die Konkurrenten verjagen sollten. Dass damit dem gutgläubigen Kunden auch ein großes Versprechen gemacht wurde, ihn nämlich in seinem knappen Urlaub entspannt und sicher ans Ziel und später auch wieder nach Hause zu bringen, wurde dabei vergessen. "Hauptsache, wir sind die Größten", schien das Motto. Und: "Es wird schon irgendwie klappen."

Der 53-jährige Kriminalbeamte Mario Hoffmann ist auf dem Weg nach Gran Canaria und muss sich schon vor dem Abflug Sorgen um die Rückreise machen: Bei Ryanair drohen Streiks, und er fürchtet, in den Sog der Flugausfälle zu geraten. "Soweit ich weiß, müssen die uns befördern", sagt er – ahnt aber schon, dass er für seine Familie vermutlich selbst Ersatz suchen müssen wird.
Der 53-jährige Kriminalbeamte Mario Hoffmann ist auf dem Weg nach Gran Canaria und muss sich schon vor dem Abflug Sorgen um die Rückreise machen: Bei Ryanair drohen Streiks, und er fürchtet, in den Sog der Flugausfälle zu geraten. "Soweit ich weiß, müssen die uns befördern", sagt er – ahnt aber schon, dass er für seine Familie vermutlich selbst Ersatz suchen müssen wird.
© Marc Jahnen/stern

Es klappte aber nicht. Die Jets von Air Berlin erwiesen sich als schlecht gewartet, das Luftfahrtbundesamt hatte keine Kapazitäten, so viele Maschinen mit jeweils Zehntausenden Seiten Begleitpapieren mal eben umzuschreiben. Und die stolzen Air-Berlin-Mitarbeiter erwiesen sich als hartnäckiger als gedacht, wenn es darum ging, neue Verträge zu unterschreiben. Die ihnen zunächst angebotenen Knebelbedingungen, etwa von Eurowings, die extra eine eigene Tochterfirma im fluggewerkschaftsfreien Österreich gegründet hatte, unterschrieben längst nicht alle.

So kam der Sommer, der laut Flugplänen wie in den Vorjahren wieder ein drei- bis fünfprozentiges Passagierwachstum versprach. Und das Chaos war angerichtet. Gleichzeitig hatte Airbus, Lieferant des Mittelstreckenjets A320neo, Lieferschwierigkeiten. Pratt & Whitney kam mit den Triebwerken nicht nach – zeitweise standen über 100 fast fertige Flieger ohne Motoren in Toulouse und Hamburg.

Uns fehlen 120 Fluglotsen

Ebenso eng wie auf den Abstellflächen der Flugzeugwerke ist es längst auch im Luftraum über Mitteleuropa. Erstmals wurden im vergangenen Jahr 3,2 Millionen Flugbewegungen allein in Deutschland gezählt. In diesem Jahr sollen es noch rund 100.000 mehr werden. 

Leider sah die offizielle Planung von Eurocontrol in Brüssel ganz anders aus. Und an die ist seit einigen Jahren auch die Deutsche Flugsicherung in Langen bei Frankfurt gesetzlich gebunden. "Uns fehlen wegen der falschen Planzahlen rund 120 Fluglotsen, vor allem für den Standort Karlsruhe", sagt Sprecherin Kristina Kelek. "Unsere Leute dort sind völlig überlastet."

Fluglotsen müssen jahrelang für ihren verantwortungsvollen Job ausgebildet werden. Schließlich geht es um die Sicherheit. Kurzfristig sei nicht mit Entlastung zu rechnen, sagt Kelek. Wenn dann noch Unwetter durch den Luftraum ziehen, sorge das für zusätzliche Verspätungen.

Julia Sierksma, 39, war auf dem Weg zu ihrem Verlobten in Krakau, als ihr Flug mit der ungarischen Wizz Air gestrichen wurde: Das Flugzeug war defekt, Ersatz nicht verfügbar. Sie musste im Hotel schlafen, bevor es am nächsten Tag mit der reparierten Maschine weiterging. Die Kosten trug erst mal sie: "Erst Monate später bekam ich mein Geld, aber nur, weil ich so emsig hinterher war."
Julia Sierksma, 39, war auf dem Weg zu ihrem Verlobten in Krakau, als ihr Flug mit der ungarischen Wizz Air gestrichen wurde: Das Flugzeug war defekt, Ersatz nicht verfügbar. Sie musste im Hotel schlafen, bevor es am nächsten Tag mit der reparierten Maschine weiterging. Die Kosten trug erst mal sie: "Erst Monate später bekam ich mein Geld, aber nur, weil ich so emsig hinterher war."
© Marc Jahnen/stern

Und selbst am Boden herrscht oft Chaos: Im Getümmel des ersten Ferienwochenendes in Bayern passten ein paar Sicherheitsmitarbeiter bei der Fluggastkontrolle in München nicht richtig auf. Sie ließen eine Passagierin unkontrolliert durchschlüpfen. Als der Fehler bemerkt wurde, war sie im Passagierstrom verschwunden. Einzige Möglichkeit, um den strengen Sicherheitsauflagen Genüge zu tun: Das gesamte Terminal wurde geräumt, mehr als 300 Flüge wurden gestrichen. Es musste alles abgesucht werden. Erst am nächsten Tag normalisierte sich der Flughafenbetrieb wieder. Ein Millionenschaden mit Folgen: Noch fünf Tage später standen zum Beispiel am Hamburger Flughafen Hunderte herrenloser Koffer, die in München liegen geblieben waren und nun mühsam ihren Besitzern zugeordnet und geliefert werden mussten.

Der Glamour des Fliegens ist endgültig weg. Man entkommt dem Chaos nicht: Selbst wer teuer bei guten Airlines bucht, kann furchtbar leiden. Ein erfahrener Pilot einer deutschen Airline berichtete dem stern, dass er bei verspäteten Flügen inzwischen sogar Angst haben müsse: "Die Passagiere sind inzwischen generell misstrauisch. Die ganzen Zusammenhänge kann man ja gar nicht erzählen: dass wir einfach nicht genügend Leute und Maschinen haben. Man muss sehen, dass es in der Kabine nicht zu Unruhe kommt. Die Passagiere könnten das Flugzeug zerlegen, wenn man die Wahrheit sagt."

"Außergewöhnliche Umstände"

Die Besatzungen müssen ausbaden, was ihnen das sparwütige Management eingebrockt hat. Oft gibt es nicht einmal genügend Trinkwasser an Bord, um stundenlange Wartezeiten auf den Abflug zu überbrücken. Sechs Besatzungsmitglieder sind dann eingesperrt in einer Röhre mit 180 genervten Reisenden. Fälle von Handgreiflichkeiten und Polizeieinsätzen häufen sich.

Die Airline-Manager verstecken sich derweil routiniert hinter der Vielzahl der möglichen Gründe, die sie angeblich nicht zu verantworten hätten. "Außergewöhnliche Umstände", heißt es dann. Besonders wenn es ans Bezahlen geht. Denn nach EU-Recht haben Passagiere bei Verspätungen und Flugausfällen klar definierte Rechte – und zwar unabhängig vom Ticketpreis. Auch Billigflieger und Charterairlines müssen Entschädigungen bis zu 600 Euro zahlen.

Lediglich bei jenen "außergewöhnlichen Umständen" müssen sie nicht zahlen. Und die Airlines machen das Außergewöhnliche in ihren Ablehnungsschreiben gern zur Regel. "Das Flugchaos im Sommer 2018 hat eine Vielzahl von Gründen", erläutert Reiserechtsexperte Ernst Führich aus Kempten. "Aber die Rechtsprechung ist sich einig, dass fast alle diese Umstände Betriebsrisiken sind, die das Management zu verantworten hat. Das darf nicht zulasten des Fluggastes gehen." Gerade erst habe der Europäische Gerichtshof höchstrichterlich entschieden, dass sogar Streiks direkt bei einer Airline in deren Verantwortung fallen. Im Klartext: Entschädigungen werden fällig.

Eigentlich sollte Maria Tolle, 58, morgens um 9.20 Uhr mit Easyjet nach Wien starten. Doch der Flug am vergangenen Freitag wurde gestrichen. Am Flughafen Tegel sagte man ihr, sie könne abends um 18.55 Uhr vom 35 Kilometer entfernten Flughafen Schönefeld aus fliegen. Wütend buchte sie für 120 Euro einen Flug mit Austrian Airlines. In Zukunft will sie lieber mit dem Zug fahren.
Eigentlich sollte Maria Tolle, 58, morgens um 9.20 Uhr mit Easyjet nach Wien starten. Doch der Flug am vergangenen Freitag wurde gestrichen. Am Flughafen Tegel sagte man ihr, sie könne abends um 18.55 Uhr vom 35 Kilometer entfernten Flughafen Schönefeld aus fliegen. Wütend buchte sie für 120 Euro einen Flug mit Austrian Airlines. In Zukunft will sie lieber mit dem Zug fahren.
© Holger Talinski/stern

Doch wirklich ans Geld zu kommen ist nicht so leicht: Kontaktformulare sind oft unverständlich, Callcenter heben erst gar nicht ab, Eurowings verschickt auf Mails automatische Antworten mit dem Hinweis, man sei überlastet und könne erst in vier Wochen reagieren.

Für den Juristen Führich hat all das Strategie: "Erst einmal wird der Kunde abgewimmelt", sagt er und rät, den Rechtsweg einzuschlagen. Am Ende werde bisher nur in einem Bruchteil der berechtigten Fälle die Entschädigung überhaupt eingefordert. Bares Geld für die Airlines, die übrigens bestens verdienen: Ryanair im vergangenen Jahr vor Steuern rund 1,7 Milliarden Euro, Easyjet 430 Millionen Euro, Eurowings immerhin 94 Millionen Euro – um nur die größten zu nennen.

Billigflieger

Fragt sich, ob der Flugmarkt nicht längst ein Fall für die Aufsichtsbehörden ist? Firmen, die Dinge verkaufen, bei denen vorher klar ist, dass nicht alle Kunden damit beliefert werden können, die Leistungen versprechen, von denen sie wissen, dass die Produkte sie nicht halten werden, und die Kunden abwimmeln oder belügen und dabei noch Gesetze missachten, die nennt man in den meisten Branchen Betrüger.

In der Luftfahrt nennt man sie Billigflieger.

Bei der Recherche halfen Till Bartels, Andreas Hoffmann, Matthias Lauerer, Johannes Röhrig und Isabel Stettin.
Wieder auf dem Siegertreppchen bei der Skytrax-Umfrage 2018: Singapore Airlines.

+++ Lesen Sie auch: "Ich hatte 2012 den Pannen-Airport BER besucht. Jetzt war ich wieder dort - und bin entsetzt" +++

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