Freitagnachmittag am Frankfurter Flughafen am Gate des London-Flugs. Der Warteraum ist überfüllt, die meisten Gäste stehen. Noch ist es eine knappe Stunde bis zum Einsteigen. Da ertönt eine Durchsage: "Wir suchen zwei Freiwillige, die bereit sind, von ihrem Flug zurückzutreten und erst am nächsten Morgen nach London zu fliegen". Als Anreiz winkt ein Reisegutschein in Höhe von 300 Euro sowie eine kostenlose Übernachtung in einem Flughafenhotel.
Die meisten Passagiere ignorieren die Ansage. Doch ein Rucksackpärchen eilt zum Counter und willigt ein. Die beiden sind flexibel und profitieren von dem Umstand, dass für diesen Flug mehr Passagiere erschienen als Plätze im Flugzeug vorhanden sind. Grund ist das Überbuchen, eine seit Jahrzehnten gängige Praxis der Airlines.
Frühe No-Show-Prognosen
Fluggäste, die zum Check-in nicht erscheinen, werden von den Airline-Mitarbeitern No-Shows genannt. Nach Angaben der Lufthansa sind es allein drei Millionen Personen im Jahr, die trotz fester Reservierung nicht einchecken. Um eine gleichbleibend hohe Flugauslastung zu erreichen, überbuchen deshalb die Airlines ihre Flüge.

Die dafür eingesetzten Softwaresysteme sind ähnlich wie für die Tarifberechnung inzwischen hoch entwickelt. Fast für jeden Flug werden die Nachfragemuster schon Monate im Voraus kalkuliert. "Die Systeme checken den aktuellen Buchungsstand für einen Flug und berechnen, wie viele Buchungen bis zum Abflug noch erwartet werden", erklärt ein Sprecher der Lufthansa.
Grundsätzlich ist die No-Show-Rate zu touristischen Zielen am Mittelmeer bei Billigfliegern geringer als auf den Business-Rennstrecken zwischen Metropolen der etablierten Linienfluggesellschaften. Geschäftsleute fliegen häufiger mit teuren Tickets, die sich ohne Zuzahlung umbuchen lassen.
Geldprämien und Upgrades locken
Entscheidend für die Überbuchungsrate sind viele Faktoren. Dazu gehören Ferien-, Messe- und Event-Termine am Abflug- und Zielort, aktuelle Wetterdaten sowie die Zahl der Passagiere von Anschlussflügen und die Statistik vergangener Flüge. Auch gibt es regional große Unterschiede: Japanische Fluggäste gelten bei den Airlines als zuverlässig. Abflüge von Flughäfen in Indien sind dagegen berüchtigt: Hier ist die No-Show-Rate besonders hoch.
Die Faustregel lautet: Ungefähr fünf Prozent mehr Tickets werden verkauft als ein Flieger Plätze hat. "Es geht darum, die Einnahmen zu maximieren, und auch darum, dass möglichst jeder Platz besetzt ist", wird der Luftfahrtexperte Brett Snyder in "Wired" zitiert. "Wenn weniger Plätze belegt sind, müssen die Tarife höher sein, um alle Kosten zu decken."
Die Kehrseite der Medaille: Lassen sich bei einem überbuchten Flug selbst mit Upgrades in die Business Class oder Geldprämien nicht genug Fluggäste für einen späteren Termin ködern, müssen Passagiere am Boden bleiben. Das kann freiwillig geschehen - oder auch nicht: Wie brachial United Airlines vor einiger Zeit einen Passagier, der bereits in der Maschine saß, vorgegangen ist, erregt zurzeit die Gemüter in den sozialen Netzwerken.
Nach Angaben des Verkehrsministeriums in den Vereinigten Staaten konnten in den vergangenen Jahren ungefähr 600.000 Passagiere pro Jahr nicht befördert werden, obwohl sie eine Reservierung hatten - das entspricht einer Rate von knapp unter einem Promille.
Recht auf Entschädigung
In Europa stehen betroffenen Passagiere durch die EU-Verordnung Nr. 261/2004 im Falle eine Nichtbeförderung oder einer durch eine Umbuchung entstandenen Verspätung sogenannte Ausgleichszahlungen zu. Die Höhe von 250 bis 600 Euro richtet sich nach Entfernung der Flugstrecke. Doch in der Praxis wird der freiwillige Verzicht mit einem im Wert meist höheren Gutschein der Airline belohnt.
Das Pärchen am Frankfurter Flughafen hat an jenem Freitagnachmittag jedenfalls ein gutes Geschäft gemacht. Ihre Entschädigung von 600 Euro übertrifft bei weitem dem ursprünglich bezahlten Ticketpreis. Mit ihren Gutscheinen können sie sich demnächst einen zweiten Wochenendtrip gönnen.
