Der junge Mann im silbernen Anzug ist die personifizierte Attacke, und alles Können, alle Emotionen mussten aus ihm raus. "Es war ein Gefühl im Cockpit, als ob mir das Herz explodiert", gestand er nach 71 Runden mit chaotischem Anfang und dramatischem Abschluss. Wie cool er auch beim Husarenritt vorbei am lahmenden Toyota von Timo Glock war, verriet erst später McLaren-Geschäftsführer Martin Whitmarsh. Auf dem GPS-System hatten die Strategen gesehen, dass sich Hamilton Glock unaufhörlich näherte, es war nur eine Frage der Zeit. "Lass Vettel durch, wir können kein Risiko gehen", brüllten sie über Bordfunk. Und Hamilton, vor Jahresfrist in Interlagos an einer Mischung aus Übermut und Unvermögen an seinem Lebenstraum gescheitert, blieb so verdammt cool, wie es sein Image will. Alles wollen, alles auf einmal, alles auf Risiko. Die Zockermentalität, die ihm im letzten Jahr an gleicher Stelle zum Verhängnis geworden war, krönt jetzt eine der erstaunlichsten Erfolgsgeschichten der Formel 1.
Ein Champion in Schnelldurchlauf: 35 Rennen, zehn Siege, erster Titel. Kein anderer Pilot hat in den letzten zwei Jahren so viele Punkte geholt wie Hamilton. Wenn es nur das wäre, könnte man staunen über den Jungen aus dem Londoner Arbeitervorort Stevenage. Aber Lewis Hamilton, der öffentlich die Anpassermentalität so gut drauf hat, dass manchmal der Eindruck entsteht, ein McLaren-Designer hätte ihn geformt, hat auch im Rekordtempo Kanten bekommen. Besser gesagt: ein eigenes Profil. Die In-Team-Feindschaft mit Fernando Alonso in seiner Debütsaison war die beste und härteste Schule, sich an die rauen Formel-1-Sitten zu gewöhnen. Er hat sich nichts gefallen lassen, weder von dem Können des spanischen Weltmeisters noch von dessen Stimmungsmache.
Hamilton ist ein verdienter Champion
Das allerdings war eine Lektion, die er schon gelernt hatte, lange bevor er in einem Cockpit saß. Als Schüler war er der schmächtigste und zappeligste, bis er sich das in einem Kurs für asiatische Kampfkunst abtrainierte. Ein Härte, an der Gegenspieler Felipe Massa auf Dauer und unter regulären Umständen auch zerbrochen wäre. Kraft dieses Durchsetzungsvermögens ist Hamilton ein verdienter Champion: "Meine Geschichte ist kein Märchen, sie hat nichts mit Glück zu tun - nur mit harter Arbeit und Menschen, die an mich geglaubt haben." In der Garage von McLaren-Mercedes hielten sich Vater und Sohn Hamilton weinend in den Armen.
Ein Quantum Trost für den Action-Helden. Das Ziel von 16 Jahren gemeinsamen Weges, der seinen Anfang im Sommerurlaub nahm, als Little Lewis eine Kartbahn auf dem Rummelplatz entdeckte. Hallelewja! Neben dem Charme, der Gelassenheit, dem analytischen Verstand und der fahrerischen Intuition ist die Kompromisslosigkeit das wichtigste Teil in dem Talent-Puzzle, das den perfekten - und verdienten - Formel-1-Weltmeister von 2008 abgibt. Der unbedingte Wille nach dem Mehr wäre selbst von seinem sportlichen Ziehvater Ron Dennis fast nicht mehr zu bremsen gewesen. Das Drama von Brasilien konnte sich nur deshalb entfalten, weil Hamilton bei den Rennen in Spa und in Fuji in den entscheidenden Momenten unnötig viel riskiert hatte. Das hat sein Image kippen lassen: Aus Mut wurde Übermut, aus Drang Draufgängertum, und die Fahrergemeinde solidarisierte sich öffentlich gegen den Pistenrowdy. "Wer mich nicht mag, kennt mich nicht", beschied Hamilton kühl. Er hatte verinnerlicht, was seine Berater ihm angedient hatten: Ruhig bleiben, nicht mehr provozieren. Das galt auch für die Rennstrecke: Brav folgte er der disziplinarischen Linie. Aber die Fahrt im Niemandsland um Rang vier oder Rang fünf steht ihm nicht, das kann er kaum, wie beim Showdown in Brasilien zu besichtigen war: "Es wurde immer schwieriger, nur auf Halten zu fahren und ans Auto zu denken. Eine ungeheure Herausforderung. Das war das schwerste Rennen meines Lebens." Und zugleich das großartigste.
Hamiltons Perfektionismus kann Angst machen
Mit dem Titel im zweiten Anlauf, der den Sekunden-Weltmeister Massa und ganz Brasilien in die Depression stürzte, hat Hamilton nicht nur sich selbst glücklich gemacht. Die Rennfahrernation Großbritannien hat endlich wieder ein Vorbild, McLaren-Mercedes hat den ersten Titelgewinn in diesem Jahrtausend geschafft, zum ersten Mal hat ein farbiger Sportler im Top-Motorsport triumphiert. Jetzt kann er wieder Mister Nice Guy sein, die Sorgenfalte auf seiner Stirn hat sich geglättet. Die ungeheure Zielstrebigkeit, die Abgeklärtheit und der gelebte Perfektionismus können einem manchmal fast Angst machen - den Gegnern in jedem Fall.
Aus der Kategorie Brutalo stammt auch ein Zitat, das wie Größenwahn klingt: "Setzt mich neben Michael Schumacher, und ich zeige, dass ich nicht die Nummer zwei bin." Doch genau dieses Zutrauen haben alle großen Champions gehabt. Sie müssen einfach so tun, als ob ihnen dieser Sport ganz allein gehört. Papa Anthony, der mit einer Leidenschaft, wie man sie sonst nur von Eiskunstlaufmüttern kennt, die Karriere seines Sohnemanns beschleunig hat, sagt: "Im Auto ist Lewis manchmal ein Monster." Er meint es als Kompliment.
Dass der Hunger der neuen Nummer eins der Formel eins mit dem so dramatischen wie glücklichen Ende vom Sonntagabend gestillt ist, steht nicht zu erwarten. Lewis Hamilton ist das personifizierte Mehr. Einmal ist keinmal.