Himmel, welch Harmonie, als sei man ins Auenland geplumpst. Die grünen Hügel des Tessins strotzen geradezu vor Vitalität, gut gewässert vom Tessiner Sommerregen. Eine beinahe paradiesische Ruhe liegt über dem Landstrich im Süden der Schweiz, der ob seiner akkuraten Hecken, des so friedlich vor sich hin schlummernden Lago Maggiore ebenfalls perfekt als Kulisse jenes niedliche Land in Tolkiens Herr der Ringe getaugt hätte, in dem es nur Platz für Eintracht und Liebe zu geben scheint.
Die Schlacht um Mordor
Dabei ist es doch gerade einmal 14 Stunden her, dass diese deutsche Nationalmannschaft aus ihrer ganz persönlichen Schlacht um Mordor zurückgekehrt ist. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn Löws Recken diese Österreicher nicht mit 1:0 in die Knie gezwungen hätten. Der Sturm der Entrüstung hätte unter Umständen nicht nur den Bundestrainer selbst, sondern mit ihm ein ganzes Konzept entwurzelt; das Konzept vom ansehnlichen Tempofußball, errichtet auf der Moderne dieses Sports.
Alles weit weg an diesem Mittag im Trainingszentrum. Mit einem Lächeln erscheint Löw zur obligatorischen Pressekonferenz, er hat sich für ein rosa Hemd entschieden, der Koordinator elektronische Medien Uli Voigt reicht den geliebten Espresso. War da was?
Dem Druck standgehalten
Sie haben den Supergau bei dieser Europameisterschaft gemeinsam vermieden, und das kollektive Aufatmen, das am Tag nach dem doch eher erkrampften Sieg gegen die zweitklassigen Österreicher im deutschen Lager zu vernehmen war, bricht sich ringsum an den Berghängen. "Es war ein gewisser Ausnahmezustand zu spüren gewesen vor dem Spiel", sagt Löw. Ein "gewisser Druck" sei vorhanden gewesen.
Sie haben ihm standgehalten, und vielleicht ist das die zunächst einzige gesicherte Erkenntnis, die es von dieser bislang für die Deutschen eher diffus verlaufenen EM zu berichten gibt. Die Mannschaft, in den vergangenen zwei Jahren etwas voreilig für die Schönheit ihres Spiels gelobt, sie hat sich der altdeutschen Werkzeuge besonnen, als der Spielfluss sie längst verlassen hatte. Sie fand einen Weg, die ihr gestellte Aufgabe zu bewältigen.
"In kämpferischer Hinsicht haben sich alle in den Dienst der Mannschaft gestellt", lobte Löw denn auch milde. Die Mindestanforderung war erfüllt, am Donnerstag darf man sich in der Runde der letzten Acht an Portugal versuchen, so etwas wie die Harlem Globetrotters dieser EM mit ihrem Zauberer Cristiano Ronaldo an der Spitze.
Befreiung nach einer Woche des Bangens
Niemand wird der Elf dann vorwerfen, sich zu weit zurückzuziehen, die Torsicherung im Blick zu behalten. Niemand wird sie bei Misserfolg zur Rechenschaft ziehen, wenn sie sich nur achtbar schlägt.
Welch Befreiung nach einer Woche des Bangens. Sie haben ihre Feuertaufe bestanden: Der Bundestrainer Löw, der in der Stunde der Krise nicht in Aktionismus verfiel, mit ruhiger Bestimmtheit seine Elf in die Partie mit dem Nachbarn führte. Der auf populistische Maßnahmen verzichtete, die Struktur seiner Elf nicht wegen einer peinlichen Vorstellung gegen die Kroaten auseinander riss, welche er im Verlauf von zwei Jahren mühsam errichtet hatte. Lieber vertraute er ihr und sicherte sich damit ihr Vertrauen.
Warnungen vor voreiliger Überhöhung
Auch der Mannschaft darf man Anerkennung zollen. Trotz offensichtlich fehlender Form hat sie einen Weg zum Sieg gefunden, nicht die Nerven verloren, als sie zum ersten Mal in ihrer jungen Historie wirklich etwas zu verlieren hatte: ihre Glaubwürdigkeit. Kann man sie dafür verantwortlich machen, dass das Umfeld - wir alle - in ihr bereits eine Auswahl von Weltformat sahen? Obgleich doch ihr Kapitän Michael Ballack selbst immer warnte, man sei noch lange nicht so weit, der Bundestrainer selbst gegenüber dem "stern" noch vor dem Turnier warnte vor voreiliger Überhöhung.
Man könnte dieser Mannschaft einfach gratulieren zum Erreichen des Viertelfinales.
Wären da nicht diese Fragen. Warum wird der Stürmer Gomez plötzlich zum ersten Mal in seiner Karriere von einer veritablen Sinnkrise heimgesucht? Warum wackelt der stämmige Verteidiger Metzelder wie eine Tanne im Wind, obgleich Löw doch versprochen hatte, dieser Metzelder, das sei einer fürs Turnier, topfit auf den Punkt? Und wo ist es geblieben, das berauschende Offensivspiel, der Enthusiasmus, die Freude an der eigenen Offensive? Hatten sie nicht 20 Millionen Euro in diese EM-Kampagne investiert, um von teambildenden Maßnahmen bis hin zur neudeutsch als Vertikalpass titulierten guten alten Steilvorlage nichts dem Zufall zu überlassen? Warum erinnert dieses Deutschland dann so sehr an die Hamanns der EM vor vier Jahren?
Schweinsteiger mit "Bringschuld"
Selten hat eine deutsche Mannschaft die Beobachter während eines Turniers ratloser hinterlassen. Man wird diesmal mit dem finalen Verdikt bis zum Ende, zumindest aber bis zur Partie gegen Portugal warten müssen. Lukas Podolski könnte gegen die Portugiesen ausfallen. Ausgerechnet Podolski, der einzige, der bislang wirklich überzeugte. Doch ihn plagt die Wade. Gomez dürfte zunächst auf die Bank rotieren. Dafür wird Bastian Schweinsteiger wohl auf der linken Seite nach seinem Feldverweis wieder zum Zug kommen. Schon allein, weil er schon drei Mal in seiner noch jungen Karriere dem portugiesischen Schlussmann Ricardo ein Tor verpasste. Löw sagt: "Er hat eine gewisse Bringschuld."
Es gilt im Baseler St. Jakob-Park in gewisser Hinsicht für sie alle, wollen sie auch bei der Rückkehr in die Heimat eine auenländische Idylle vorfinden.