Nachdem er sich hastig seines Trikots entledigt hatte, genoss Mario Balotelli den Moment des großen Triumphes wie zum Denkmal erstarrt die Fäuste vor dem Unterkörper geballt, die Schultern etwas vorgestreckt und jeden Muskel seines imposanten, athletischen Körpers angespannt. So sehen Helden aus.
Der extrovertierte, aber doch gleichzeitig lautlose Jubel war ein Zeichen an den sportlichen Gegner aus Deutschland, dem er soeben zwei Treffer eingeschenkt hatte, aber auch eine passende Antwort auf die latenten rassistischen Ressentiments und offenen Anfeindungen in seinem Heimatland und Ausdruck des stillen Triumphs über seine Kritiker, die sich gegen seine Nominierung gestellt hatten. Ein stiller Protest und damit genau das Gegenteil von dem, was die Medienlandschaft vom Enfant Terrible des italienischen Fußballs eigentlich erwartet hatte.
Leise Töne waren bisher nicht sein Ding, schließlich ist er sonst nie um einen markigen Spruch verlegen, zählte sich noch vor wenigen Monaten großspurig zu den besten Fußballern der Welt und arbeitete auch sonst fleißig daran, seinen Ruf als arroganter "Bad Boy" zu nähren. Geschwindigkeitsdelikte mit seinem Maserati, diverse Affären, ein Einbruch - angeblich aus "Neugierde" - in ein italienisches Frauengefängnis, ein Badezimmerbrand nach Experimenten mit Feuerwerkskörpern und angebliche Erinnerungsfotos mit sizilianischen Mafiabossen machten ihn zum Stammgast der Klatschspalten.
Auch auf dem Platz produzierte er reichlich Negativschlagzeilen. Mal prügelte er sich mit einem Mitspieler um die Ausführung eines Freistoßes, dann leistete er sich böse Fouls, unnötige Platzverweise und verpasste Gegenspieler Scott Parker einen Stollenabdruck im Gesicht als kleines Andenken. Bei Inter legte er sich einst mit den Fans an, die er durch extrem lässiges Gekicke zu Pfiffen animierte, um ihnen nach Abpfiff sein Trikot vor die Füße zu werfen und sie damit endgültig gegen ihn aufzubringen.
Balotelli: Idiotische Aktionen contra große sportliche Taten
Solche idiotischen Aktionen und vor allem sein oftmals phlegmatisches Trainingsverhalten haben schon Trainer wie José Mourinho und Roberto Mancini zur Verzweiflung und zur Weißglut gebracht. Und sie übertünchten in der öffentlichen Wahrnehmung sein riesiges sportliches Talent und seine große Leistungen, die er bezeichnenderweise oft direkt auf einen Skandal folgen lässt. Trotz seiner erst 21 Jahren hat er bereits 39 Tore in 99 Erstligaspielen für Inter Mailand und Manchester City erzielt, drei Landesmeistertitel und die Champions League gewonnen.
"Er besitzt ohne Zweifel alle Charakteristika, um ein ganz Großer zu werden", hatte Nationaltrainer Cesare Prandelli großer Förderer und Mentor Balotellis schon vor gut anderthalb Jahren im Interview mit sportal.de erklärt, dann aber nachgeschoben: "Nur, wenn er sein Benehmen korrigiert, das sein großes Talent leider manchmal überschattet, wird aus ihm etwas." Trotz aller Negativschlagzeilen und trotz kritischer Stimmen und Widerstände in Italien hat Prandelli fast väterlich immer an seinem Problemkind festgehalten. Die Tore gegen Irland und Deutschland sowie die insgesamt starke und vor allem mannschaftsdienliche Spielweise bei der EM waren Marios Dank.
Ist Balotelli tatsächlich gereift?
Und dann noch dieser stille Protest. Lag es nur daran, dass er sich zusammenriss, weil seine Pflegemutter gegen Deutschland im Stadion war. Sie hatte ihn aufgezogen, nachdem seine leiblichen Eltern in einem Krankenhaus zurückgelassen hatten. Ihr widmete er beide Tore und ließ sich nach Abpfiff liebevoll über den Iro streichen.
Lag es also an der Mama, oder erleben wir bei dieser EM vielleicht sogar den Wandel zu einem neuem reiferen Balotelli? Einem Erwachsenen, der ab sofort hauptsächlich Taten auf dem Fußballplatz für sich sprechen lässt? Prandelli ist überzeugt davon. "Balotelli ist ein einzigartiger Spieler und seine Karriere beginnt erst jetzt, erklärte der Coach nach Schlusspfiff im TV-Interview und nährt damit die Hoffnung auf weitere Geniestreiche im Finale gegen Spanien.
Dort guckt dann nicht nur die Mutter, sondern auch der Vater im Stadion zu - und dem versprach Balotelli schon mal vorab vier Tore. So ganz kann er die lauten Töne offenbar doch nicht lassen. Aber wenn er wieder Taten folgen lässt, wird ihm das in Italien wohl keiner wirklich übel nehmen.
Malte Asmus