Mögliche Rückholaktion Wie die Bayern sich im Fall Boateng selbst schaden – und worum es in dessen Gerichtsverfahren geht

"Private Geschichte": Jerome Boateng im November 2022 vor dem Münchner Landgericht
"Private Geschichte": Jerome Boateng im November 2022 vor dem Münchner Landgericht
© Christof Stache / AFP
Der FC Bayern denkt darüber nach, ob er Jérôme Boateng aufgrund einer personellen Notlage zurückholen soll. Angesichts der Gewalt-Vorwürfe, die immer noch gegen den früheren Weltmeister im Raum stehen, ist das keine gute Idee.

Für den neuen Sportdirektor des FC Bayern, Christoph Freund, ist die Sache mit Jérôme Boateng überhaupt kein Problem: "Unser Zugang ist dazu, was das Beste für den FC Bayern sportlich ist." Freund, erst seit einem Monat in Amt und Würden beim deutschen Rekordmeister, hat unmissverständlich klar gemacht, wie er den Fall Boateng und dessen mögliche Verpflichtung als Kurzzeit-Aushilfsspieler bewertet. "Darum ist es auch seine private Geschichte und kein großes Thema für uns", sagte Freund weiter.

Die "private Geschichte" meint die Gewalt-Vorwürfe gegen Boateng und die Prozesse, die gegen ihn deswegen geführt wurden und werden. Für den FC Bayern mögen sie tatsächlich kein großes Thema sein, für die Anhänger und die Öffentlichkeit schon. Denn die Debatte darüber ist längst entbrannt, auch wenn es erst "Ende dieser Woche eine Entscheidung geben wird", wie Freund ankündigte. Selbst vor dem Spiel in der Champions League gegen den FC Kopenhagen am Dienstagabend ist Boateng, 35, das beherrschende Thema. Die Gewalt-Vorwürfe lassen sich nicht einfach beiseite wischen, auch wenn es den Bayern in ihrer akuten personellen Notlage am liebsten wäre. Für sie wäre die Verpflichtung Boatengs sportlich eine einfache und günstige Lösung (wenn sie ihn denn für fit genug befinden).

Die ethische Frage stellt sich von selbst

Doch die Frage, ob es ethisch für den FC Bayern zu verantworten ist, einen Fußball-Profi wie Boateng zu verpflichten, stellt sich von selbst. Der FC Bayern ist nicht irgendein Verein, sondern einer der größten und erfolgreichsten Klubs der Welt, woraus sich eine gewisse gesellschaftliche Verantwortung ableiten lässt. Und Boateng ist kein Allerweltsfußballer, sondern Weltmeister, Champions -League-Sieger und vielfacher Deutscher Meister. Ein ehemaliger Superstar, der ganz oben angekommen war. 

Jetzt, am Ende seiner Karriere, ist der Glanz verblasst und das einst positive Image hat gehörige Schrammen abbekommen. Seit zwei Jahren hat Boateng ein Verfahren wegen Körperverletzung und Beleidigung am Hals. Er soll seine damalige Freundin im Jahr 2018 während eines Karibik-Urlaubs angegriffen und beschimpft haben. In zwei Prozessen ist er zu hohen Geldstrafen verurteilt worden, nach beiden wurde die Berufung bzw. die Revision zugelassen. Boateng ist aktuell also kein offiziell verurteilter Täter.

Zunächst hatte das Amtsgericht München 2021 eine Strafe von 1,8 Millionen Euro bei 60 Tagessätzen gegen Boateng verhängt. In einem zweiten Verfahren vor dem Landgericht München wurde er zu 1,2 Millionen Euro bei 120 Tagessätzen verurteilt. Das zweite Urteil erscheint milder, ist es aber nicht. Ab 90 Tagessätzen ist man vorbestraft. Die Höhe der Gesamtsumme orientiert sich am Vermögen des Verurteilten, der offenbar nicht mehr so viel auf der hohen Kante hat wie zur Zeit des ersten Urteils.

Auch der Fall Kasia Lenhardt spielt eine Rolle

Gegen das letzte Verfahren hatten sowohl Staatsanwaltschaft wie die Verteidigung Revision eingelegt. Der Prozess wird nun an einer anderen Kammer des Landgerichts neu aufgerollt, der Ausgang ist offen. Allerdings hatte sich der Richter im zweiten Prozess überzeugt gezeigt, dass die Vorwürfe gegen Boateng in jedem Fall glaubwürdig seien.

Um die ganze Dimension einer neuerlichen Boateng-Verpflichtung durch die Bayern zu verstehen, muss man auch auf den anderen Fall schauen, in den der Fußballprofi verwickelt war. Die frühere Freundin Katarzyna "Kasia" Lenhardt, ein Model, hatte Boateng nach der Trennung ebenfalls öffentlich vorgeworfen, sie geschlagen zu haben. Boateng gab daraufhin der "Bild" ein Interview, in dem er die Glaubwürdigkeit Lenhardts in Zweifel zog und ihr Alkoholprobleme unterstellte. Danach brach ein Shitstorm über das Ex-Model herein, kurze Zeit später beging sie Suizid.

Rat und Hilfe

Sie haben suizidale Gedanken? Hilfe bietet die Telefonseelsorge. Sie ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr unter (0800) 1110111 und (0800) 1110222 erreichbar. Auch eine Beratung über E-Mail oder Chat ist möglich.  Eine Liste mit bundesweiten Hilfsstellen findet sich auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.

Der Fall wühlte damals das ganze Land auf. Es wurde intensiv über die Gewalt von Fußball-Profis gegen Frauen und über den Machtmissbrauch prominenter Männer debattiert. Ein Gericht verurteilte Boateng im vergangenen Jahr dazu, dass er die Vorwürfe aus dem Interview nicht mehr verbreiten dürfe. Leonhardts Mutter hatte gegen ihn geklagt.

Dass die Bayern überhaupt über eine Verpflichtung Boatengs nachdenken, offenbart genauso eine sportliche Fehlplanung. In der Transferphase des vergangenen Sommers gab die eilig einberufene Transfer-Task-Force zwei Verteidiger (Pavard, Stanisic) ab, holte mit dem Südkoreaner Kim Min-Jae aber nur einen Ersatz. Ein Innenverteidiger fehlt genau wie ein weiterer defensiver Mittelfeldspieler. Kurz gesagt: Der Bayern-Kader ist personell auf Kante genäht und die Not groß. Das legte exemplarisch das Pokalspiel gegen Preußen Münster offen. Dort mussten mit Leon Goretzka und Noussair Mazzraoui zwei Spieler als Innenverteidiger ran, die noch nie auf dieser Position gespielt hatten. Da Kim im Januar an der Asienmeisterschaft teilnimmt, wird die Personaldecke arg dünn. Und die Panik bei den Bayern größer.

Quellen: DPA, "Süddeutsche Zeitung", "Focus", "Tagesschau", "Bild", "Zeit"

PRODUKTE & TIPPS