Philipp Lahms Buch Eiskalt serviert

Eine Buchbesprechung von Tim Schulze
"Der feine Unterschied" ist ein lesenswertes Kompendium des modernen Fußballs - mit Philipp Lahm als Protagonisten. Sympathisch geht es in dieser Welt nicht zu.

Wenn die Autobiografie eines Fußballers schon vor ihrem Erscheinen den ersten Platz der Bestellerliste von Amazon erobert, muss sie einen Nerv getroffen haben. Diesen Punkt kann sich Philipp Lahm also anrechnen. Schließlich verweist er den Sex- und Therapiereißer "Schoßgebete" von Charlotte Roche auf Platz zwei. Aber vollends überraschend kommt der Gipfelstrum nicht mehr. Dazu gab es zuviel Bohei um "Der feine Unterschied. Wie man heute Spitzenfußballer wird" (Verlag Antje Kunstmann, 19,90 Euro).

Der Aufschrei war groß, als hätte da jemand hochbrisante Enthüllungen ausgeplaudert, die das deutsche Fußballsystem bis ins Mark erschüttern. So ähnlich wie 1987 Toni Schumacher mit seinem Werk "Anpfiff", ein wütender Rundumschlag, der für den damaligen Kölner das Ende beim FC und in der Nationalmannschaft bedeutete. Dessen Schilderungen waren allerdings von ganz anderem Kaliber: Deutschlands Fußballelite, so der Eindruck, bestand zu jener Zeit offenbar nur aus Säufern, Hurenböcken, Zockern und Gedopten.

Demgegenüber nimmt sich Lahms Werk harmlos aus, doch die von der "Bild"-Zeitung vorab zitierten Passagen sorgten unisono für negative Reaktionen und vereinten Menschen, die ansonsten wenig gemein haben. Die Anti-Lahm-Allianz reicht von Rudi Völler ("Das ist schäbig") über Felix Magath ("So wird man keine Persönlichkeit") bis zu Holger Stanislawski und Robin Dutt. Letztere hatte Lahm gar nicht erwähnt, doch der Berufsstand des Fußballtrainers fühlt sich von dem Bayern an die Wand gestellt - und zeigt in der Defensive beeindruckende Solidarität. Doch ist die Aufregung gerechtfertigt?

Ein Kompendium des modernen Fußballs

Vorweg: Lahm-Lesen lohnt sich, weil der Nationalmannschaftskapitän so etwas wie eine Gesamtphilosophie des modernen Fußballs niedergeschrieben hat. Was er mit Co-Autor Christian Seiler zu Papier brachte, ist zwar häufig Allgemeingut, aber so komprimiert in einem Buch hat es noch niemand verfasst. Lahm inszeniert sich selbstbewusst als Prototyp des modernen Profis, dessen nachfolgende Generation im Moment so viel Furore macht. Er formuliert, garniert mit vielen Anekdoten seiner Karriere, Anforderungsprofile für junge Spieler und für Trainer gleich mit. Er äußert sich zum Thema Homosexualität und hartnäckigen Gerüchten ("Ich bin nicht schwul"), erzählt von den sozialen Projekten in Afrika, die er mit seiner Stiftung unterstützt, und fabuliert über die Zusammenhänge von Leidenschaft, Disziplin und medialer Kompetenz. Das Thema Integration wird nicht vergessen.

Und Nutzwert auch nicht. So will Lahm sein Werk als Anleitung für junge Spieler verstanden wissen: "Dieses Buch ist ein Buch, wie ich es selbst gerne gelesen hätte, als ich ein junger Fußballer war. Es ist ein Buch darüber, wie Spitzenfußball heute funktioniert", schreibt er im Vorwort. Das ist ein hoher Anspruch, Lahm ist als Autor genauso ehrgeizig wie als Fußballer. Aber bisweilen übertreibt er es mit seinem immer wieder zur Schau gestellten Selbstbewusstsein. Über die Ernennung zum Kapitän schreibt er: "Eine Voraussetzung ist, dass du deine Position im Griff hast. Dafür musst du sie in der Regel jahrelang auf höchstem Niveau gespielt haben. (...). Es liegt in der Natur unseres Sports, dass ich für das Amt des Kapitäns infrage komme." Niemand bestreitet, dass er seine Fähigkeiten als Fußballer richtig einschätzt. Aber wenn ein ehrgeiziger Musterschüler sich selbst lobt, ist das nicht unbedingt ein sympathischer Zug.

Spannung fehlt nicht

Das Buch liest sich aber durchaus spannend. Lahm hat als Profi schon viel erlebt. Vom ersten Training in der Bayern-Jugend über die Tränen nach seinem Kreuzbandriss bis zum Champions-League-Finale vergangenes Jahr im Bernabeu-Stadion – er handelt die Stationen seiner Karriere kurzweilig ab. Die Episoden nimmt er immer wieder zum Anlass, um grundsätzliche Schlüsse über das Profidasein zu auszubreiten. Der Journalist Seiler hat handwerklich einwandfreie Arbeit abgeliefert. Nur der bisweilen lockere Tonfall wirkt arg aufgesetzt ("Autsch. Wenn so etwas von Schumacher kommt, tut's weh" oder "Rummenigge ist richtig sauer"). Natürlich wimmelt es von Fußballphrasen ("mit individuellen Fähigkeiten jederzeit ein Tor erzielen"), und es gibt gewagte Metaphern ("Als das Spiel in Durban angepfiffen wird, fällt die Nervosität wie ein Netz vom schwarzen Himmel"). Aber es handelt sich schließlich um das Buch eines Fußballers.

Interessant ist es schon deshalb, weil da ein Zeuge schreibt, der die rasante Entwicklung im deutschen Fußball und den Umbruch der Nationalelf als Akteur miterlebt hat. "Der feine Unterschied" bezeichnet nicht nur die feine Trennlinie zwischen Talent und Erfolg, sondern es ist eine Absage an veraltete Prinzipen und an eine Fußballwelt, die mit ihren Methoden heute antiquiert erscheint. Kein Wunder, dass sich viele Protagonisten, die das Fußballhandwerk in dieser Zeit erlernten, auf den Schlips getreten fühlen.

Über das Wechselspiel mit dem Trainer

Und das sind vorwiegend seine Vorgesetzten. Zitat: "Ein guter Trainer verfügt über Autorität und eine Ausstrahlung, um seine Ideen auf die Mannschaft zu übertagen. Aber die Zeit der Trainer, die mit ihren Spielern nur reden, um ihnen Befehle zu erteilen, ist vorbei. (…) Die Autorität des Trainers kann nur im Dialog mit den Spielern entstehen, die seine Ideen auf dem Spielfeld Wirklichkeit werden lassen." Felix Magath ist das genaue Gegenteil. Der ist Lahms erster Bundesliga-Trainer in Stuttgart, unter ihm wird er zum Nationalspieler. Magath faltet den damals 19-Jährigen im ersten Training vor versammelter Mannschaft in "bestem Kasernenhofton" zusammen. Lahm hat das Gefühl, eine "Dampfwalze" sei gerade über ihn hinweg gedonnert. Aber Lahm sieht auch, dass Magath "weiß, wie er ein Team zusammenstellen muss. Kompakte Abwehr, Aljaksandr Hleb als fantastischer Individualist und viele Junge, die sich die Seele rausrennen: Solche wie ich." Die Passage zeigt: Lahm kritisiert und differenziert. In München gewinnt er unter "Quälix" auf Anhieb das Double aus Meisterschaft und Pokal. Nur haben sich die Methoden des Trainers irgendwann abgenutzt, die Spieler verlieren den Respekt, es kommt zum "Ermüdungsbruch" zwischen Profis und Coach.

Negativer schildert Lahm seine erste Berufung zur Nationalmannschaft durch den damaligen Bundestrainer Rudi Völler, der sich dann ja auch am meisten echauffierte. Die Schilderung seiner Arbeit erweckt den Eindruck, als hätte ein alter Herr eine gemütliche Kaffeefahrt organisiert. Von anspruchsvollen Trainingsmethoden keine Spur.

Dankbarkeit ist kein Wert

Viele Äußerungen überraschen nicht, bespielsweise die über den "Sturschädel" Louis van Gaal, über Fitnessfanatiker Jürgen Klinsmann und Jogi Löw ("ein präziser Denker"). Aber die Schilderungen entfalten dennoch ihre Wirkung. Die beruht schlicht darauf, dass man Interna aus der Feder eines Spielers erfährt, der aktuell Kapitän der Nationalmannschaft und des besten Clubs des Landes ist - und der in seiner Karriere von den kritisierten Trainern profitiert hat. Aus Lahms Perspektive ist das konsequent, Dankbarkeit ist in seinem Berufsleben kein großer Wert. Der Münchener beschreibt den Spitzenfußball als knallhartes Konkurrenzsystem und großen Bestandteil der Unterhaltungsindustrie. "Wir sind moderne Gladiatoren. Softies haben im Fußball keinen Erfolg." Es sei eine "romantische Vorstellung, dass eine Mannschaft aus elf Freunden besteht". Der tägliche Konkurrenzkampf bestimme das Leben eines Spitzenprofis. Der Tipp für aufstrebende Spieler lautet: "Deine Probleme löst du besser außerhalb der Mannschaft, mit Menschen, denen du vertraust."

In diesem Licht muss man auch Lahms Berufung zum Kapitän der Nationalmannschaft sehen. Mitleid und Bedauern sind nicht die Kategorien, in denen der Fußballer Lahm denkt: "Sobald die Leistungen nicht mehr stimmen, verliert der verdienteste Spieler seine Aura und danach seine Funktionen. Für Michael Ballack ist es hart, dass er nach seiner schweren Verletzung die Rückkehr in die Nationalmannschaft nicht mehr geschafft hat. Persönlich tut mir das leid für Balle. Aber als Spitzenfußballer muss er genauso wie ich zur Kenntnis nehmen, wie die Mechanismen unseres Sports funktionieren. Persönliche Befindlichkeiten spielen dabei zwangläufig eine untergeordnete Rolle. Das klingt vielleicht hart - aber das gilt für jeden von uns."

Kein Platz für Leitwölfe

Seine Interviewaussagen während der WM in Südafrika hält er weiter für richtig. "Ja, klar," hatte Lahm auf die Frage geantwortet, ob er auch in Zukunft Kapitän bleiben wolle. Jetzt schreibt er: "Ich habe zu einem Zeitpunkt, als es notwendig war, Verantwortung übernommen. Während der Vorbereitung auf die WM habe ich einen Führungsstil entwickelt, der von der Mannschaft, wie man sieht, gut aufgenommen wurde." Das ist die viel zitierte "flache Hierarchie", Lahm spricht "von, Achtung, Mehrzahl, mehreren Kapitänen". Schlussfolgerung: Das Leitwolfprinzip gehört ins Museum. Das sitzt. Lahms Haltung: Ballack gehört wie die Kahns, Magaths und van Gaals einer Generation an, deren Methoden im Kern rückständig sind – vor allem in der Menschenführung. Diplomatische Zurückhaltung ist nicht Lahms Sache, und der Leser fragt sich ganz naiv, ob er von einem Führungsspieler nicht ein wenig mehr Respekt und Höflichkeit erwarten kann. Es ist der Tonfall eines sehr, sehr selbstbewussten Profis, den viele kritisieren. Zu Recht.

PRODUKTE & TIPPS