St. Pauli-Sportchef Helmut Schulte im Interview "Werder Bremen ist unser Vorbild"

100. Geburtstag, Aufstieg in die Bundesliga und ein überraschender Rücktritt des Präsidenten: Beim FC St. Pauli geht es hoch her. Im stern.de-Interview spricht Sportchef Helmut Schulte über den Abschied von Corny Littman, das Vorbild Werder Bremen - und avangardistische Träume.

Helmut Schulte, was bedeutet der plötzliche Rücktritt von Corny Littmann für den FC St. Pauli?
Corny Littmann hat Großes für den FC St. Pauli geleistet! Er hinterlässt bei uns eine Lücke - er hat aber auch hervorragende Strukturen geschaffen, die dem Verein auch in der Zukunft Stabilität verleihen werden!

Wie soll die Lücke, die er hinterlässt, jetzt geschlossen werden?
Nicht nur strukturell und organisatorisch, sondern auch personell ist der Verein durch Corny Littmann so aufgestellt worden, dass es uns allen keine große Schwierigkeit bereiten sollte die Nachfolgeregelung vernünftig zu bewerkstelligen. Das wird der Aufsichtsrat in Absprache mit dem Präsidium machen.

Es sind jetzt ein paar Tage vergangen. Die große Aufstiegseuphorie hat sich ein bisschen gelegt. Mit etwas Abstand betrachtet: Wie überrascht sind Sie über den Aufstieg des FC St. Pauli in die Fußball-Bundesliga?
Ich bin sehr überrascht - immer noch. Vor der Saison gab es schon wieder einen kleinen Umbruch bei uns im Kader, teilweise ungewollt. Ich habe die Mannschaft trotzdem mit Abstand hinter der Spitzengruppe erwartet. Aber es lief dann von Anfang an phantastisch. Wie sagt man so schön? Wir hatten einen Lauf. Wir haben den Schwung bis zum Ende genutzt. Nach dem 3:0-Erfolg gegen Augsburg im letzten Saisondrittel war mir klar, dass wir es schaffen werden.

Sie haben das Augsburg-Spiel angesprochen. Gibt es noch ein anderes Schlüsselerlebnis im Laufe der Saison? Ein Erlebnis über das Sie heute sagen: Das war es. Uns stoppt keiner mehr.
Im Februar haben wir bei schrecklicher Kälte am Millerntor mit 2:1 gegen Karlsruhe gewonnen. Das war der vierte Sieg hintereinander. Mir war danach klar, dass wir uns ab sofort mit dem Aufstieg befassen müssen. Da hat für jeden in diesem Club, nicht nur für die Spieler, ein Umdenkprozess eingesetzt. Den muss man erstmal bewältigen. Übrigens: Das Hinspiel in Karlsruhe (das der FC St. Pauli mit 4:0 gewann, Anm. der Red.) war auch eine Art Schlüsselerlebnis. Von dem Moment an wusste ich, wie gut wir wirklich sind.

Ihr Trainer, Holger Stanislawski, gilt als Emotionalisierer. Inwieweit ist er auch ein Stratege?
Holger Stanislawski hat große strategische Fähigkeiten. Er kann eine Mannschat optimal auf den Gegner einstellen. Um es mal etwas martialisch auszudrücken: Er versteht es, unsere Waffen auf dem Platz in Stellung zu bringen. So, dass der Gegner Schwierigkeiten bekommt. Was den Coach aber auch auszeichnet: Er kann während eines Spiels Änderungen vornehmen, die dann von den Spielern umgesetzt werden. Stanislawski ist immer in der Lage, zu reagieren. Das ist schon eine besondere Gabe. In der Halbzeitpause macht er, wenn es die Lage erfordert, manchmal verrückte Dinge. So schafft er immer wieder neue Anreize. Man merkt in solchen Situationen, dass er selber Profi war.

Mussten Sie Stanislawski schon mal einbremsen?
Wenn es so wäre, würde ich es zumindest nie öffentlich von mir geben (lacht). Wichtig ist der Austausch zwischen uns beiden. Wir nehmen uns regelmäßig die Zeit, auch mal zwei, drei Stunden miteinander zu sprechen. Fast täglich passiert das. Dann werden Strategien entwickelt und wir sprechen auch über Spieler, von denen wir uns vorstellen könnten, dass sie zum FC St. Pauli passen könnten. Eine funktionierende Kommunikation zwischen den leitenden Angestellten eines Vereins ist immens wichtig.

Sie haben den FC St. Pauli 1988 als Trainer in die Bundesliga geführt. Die Zeiten haben sich radikal geändert. In vielerlei Hinsicht bricht jetzt auf den Club etwas ganz Neues ein. Haben Sie Zweifel, dass Trainer, Mannschaf und Management dem Haifischbecken Bundesliga nicht gewachsen sein könnten? Stichwort: Erfahrung.
Richtige Sorgen habe ich deshalb nicht, aber es stimmt ja: Wir sind nicht so erfahren. Das muss übrigens nicht zwangsläufig schlecht sein. Wichtig ist, dass bei allen die Bereitschaft da ist, sich in einer höheren Klasse zu beweisen. Da gibt es für einen Fußballprofi eigentlich nichts Besseres. Unsere Mannschaft zeichnet ein außergewöhnliches Gemeinschaftsgefühl aus. Bei jedem Einzelnen ist jetzt schon die Motivation da, es den Etablierten da oben mal zu zeigen.

Ein Club hat es Ihnen in der Bundesliga anscheinend besonders angetan - als Vorbild für den FC St. Pauli: der SC Freiburg. Warum eigentlich?
Unser Vorbild ist nicht Freiburg, sondern Werder Bremen. Die Bremer holen Jahr für Jahr das Optimale aus ihren Möglichkeiten heraus. Sie gehen auch mit Rückschlägen anders um. Sie vertrauen ihrem Personal und sind immer auf Kontinuität aus. Das imponiert mir sehr. Da ist Werder Bremen ein einsamer Leuchtturm in der Bundesliga, an dem wir uns orientieren wollen. Aber wir sind nicht so vermessen und vergleichen uns mit Werder. Was unsere spezielle Situation betrifft, schauen wir schon zum SC Freiburg. Dort beeindruckt mich der Umgang des Managements mit dem Thema permanent zwischen zwei Ligen unterwegs zu sein.

Ihr Ziel muss es sein, den Club langfristig in der Bundesliga zu etablieren. Wie wollen Sie das schaffen?
Nein, das muss nicht unser Ziel sein. Wir wollen uns auf allen Ebenen als Verein weiterentwickeln - und zwar ohne dabei unsere Seele zu verkaufen. Das ist das Ziel. Nach der Saison wollen wir besser da stehen als vorher. Aber das hat nichts mit Punkten oder Toren zu tun. Es gilt, keine wirtschaftlichen Experimente einzugehen und trotzdem einen Prozess der Weiterbildung und der Weiterentwicklung durchzumachen. Wir wollen das jetzt angehen.

Welche Idee verfolgt der FC St. Pauli bei der Verpflichtung neuer Spieler?
Wir sind nicht der PSV Eindhoven oder Bayer Leverkusen. Wir können uns kein weltweites Scouting-System leisten. Aber wir haben klare Vorstellungen. Die sportlichen Fähigkeiten einmal vorausgesetzt, muss der Spieler von seiner Mentalität her zu uns passen. Da ziehen wir, die Verantwortlichen, auch immer an einem Strang. Wenn Sie schon von Ideen sprechen, dann ist es unsere Idee, junge deutsche Talente aus dem norddeutschen Raum an uns zu binden. Neuerdings stellen wir uns auch in Skandinavien auf. Das liegt vor unserer Haustür. Wie gesagt: Fast immer herrscht im Trainerstab Einigkeit darüber, ob jemand zum FC St. Pauli passt oder nicht.

Sie scheinen sich alle immer einig zu sein beim FC St. Pauli.
Oh nein, was die Torwartfrage betrifft, gab und gibt es immer heftige Diskussionen. Ich habe schon immer für einen großgewachsenen Torwart plädiert. Trotzdem haben wir Matthias Hain verpflichtet (lacht). Da haben mich die anderen Spezialisten einfach überstimmt. Und sie hatten Recht!

Der Verein steht wirtschaftlich so gut wie noch nie da. Wo sehen Sie denn noch Entwicklungspotenzial?
Im Merchandising müssen wir noch besser werden. Und auch das Stadion ist ja noch lange nicht fertig. Mir fällt noch das Trainingsgelände ein, aber da sind wir jeweils auf guten Wegen. Nur, es dauert eben alles noch ein paar Jahre bis es perfekt ist. Da wo wir schon perfekt sind, im Bereich Erlebnis, muss man fast noch mehr aufpassen. Dieses 4 x 45 Minuten-Erlebnis Millerntor muss bewahrt werden. Die 45 Minuten vor dem Spiel, das Match an sich, und die Dreiviertelstunde danach, davon lebt der Verein. Diese Starken Bilder aus unserem Stadion wecken Emotionen. Das müssen wir wie ein rohes Ei behandeln. Das darf dem FC St. Pauli niemals abhanden kommen.

Sind St. Pauli-Fans eigentlich noch politisch?
Sie sind politisch, und sie sind unpolitisch. DEN St. Pauli-Fan gibt es sowieso nicht. Es gibt Zuschauer, es gibt Sympathisanten und es gibt Vereinsmitglieder. Alle sollen bei uns im Stadion zu ihrem Recht kommen. Keine Gruppe darf der anderen seine Meinung aufdrücken. Mir ist wirklich jeder Fan lieb. Der, der seine Karte vor dem Stadion findet genauso wie der, der nur zum Bayern-Spiel zu uns in die Loge kommt. Wir sind ein toleranter Club, der keine Gewalt duldet. Das klassische Freund-Feind-Bild soll es bei uns nicht geben. Mir ist schon bewusst, dass das idealistisch klingt - und idealistisch ist. Die Vorkommnisse vor, während und nach den beiden Spielen in dieser Saison gegen Hansa Rostock waren diesbezüglich auch für mich absolute emotionale Tiefpunkte. Das hat auch gar nichts mehr mit politischen Einstellungen zu tun. Da waren Dumme am Werk. Wissen Sie, was zum FC St. Pauli gepasst hätte und was ich mir zum 100. Geburtstag unseres Clubs gewünscht habe? Ein Freundschaftsspiel gegen Hansa Rostock. Nach dem Motto: Wir strecken euch die Hand entgegen. Leider konnte ich mich mit der Idee nicht durchsetzen. Da waren wir nicht avantgardistisch genug.

Wer die Begeisterung in Hamburg nach dem Aufstieg vom FC St. Pauli mitkommen hat, der könnte meinen, in dieser Stadt kann eigentlich nur eine Mannschaft Bundesliga spielen. Hier ist gar kein Platz für ein zweites Team. Dabei ist der HSV ja eigentlich der große Bruder. Wann lösen Sie den HSV als Nummer 1 in der Stadt endgültig ab?
Der HSV hat eine Delle, wir sind aufgestiegen. Dass uns im Moment die Sympathien in der Stadt gehören, überrascht mich nicht. Aber ehrlich gesagt: So richtig interessiert uns der HSV auch nicht. Wir spielen in unserem Stadtteil Fußball, die Leute sollen sich in unserer Kiste wohlfühlen. Aber damit wir uns nicht missverstehen: Mittel- bis langfristig reicht mir das nicht. Ich will irgendwann auch mal mit dem FC St. Pauli einen internationalen Gegner am Millerntor begrüßen dürfen - und zwar nicht nur zu einem Freundschaftsspiel. Das fänden unsere Fans auch schön.

DPA Zur Person: Helmut Schulte Helmut Schulte, geboren am 14. September 1957, hat eine lange Geschichte beim FC St. Pauli. Der gebürtige Sauerländer führte den Verein 1988 als Trainer in die Bundesliga. Nach weiteren Trainerengagements beim FC Schalke und Dynamo Dresden war Schulte von 1998 bis Februar 2008 im Nachwuchsbereich des FC Schalke tätig. Im Februar 2008 kehrte Helmut Schulte zurück zum FC St. Pauli und übernahm den Posten als Geschäftsführer Sport.

Klaus Bellstedt

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