Stimmungstötender hätte die Pause in der Münchener Allianz-Arena nicht verlaufen können: Zeitgleich mit dem Pausenpfiff - Sekunden zuvor hatte Higuain das 1:0 für die Gäste aus Argentinien erzielt - drehte die Stadionregie die Regler zu den Klängen des neuesten Lady-Gaga-Hits bis zum Anschlag. Aber damit nicht genug. Kurz danach wurde den Fans in einem ellenlangen Einspieler auf der Videowand die DFB-PR-Aktion "Der vierte Stern für Deutschland" präsentiert. Kaiser Franz und eine Handvoll aktueller Nationalspieler bitten in dem Filmchen die Fans um Unterstützung auf dem Weg zum WM-Titel. Der Titelgewinn in Südafrika wäre der vierte Weltmeisterschafts-Titel in der Geschichte des DFB und würde dem schwarz-weißen Trikot mit dem Adler somit den vierten Stern bescheren.
Genug geträumt. Nach dem Abend von München und der hochverdienten 0:1-Niederlage gegen Argentinien muss man sagen: Deutschland ist vom WM-Titel 2010 in etwa soweit entfernt wie der Vegetarier vom Verzehr eines blutigen 350 Gramm Rib-Eye-Steaks. Diego Armando Maradona, der Trainer der "Gauchos", brachte es hinterher auf den Punkt: "Meine Mannschaft war heute in allen Belangen besser als das deutsche Team." Rumms, diese verbale Ohrfeige saß. Bundestrainer Joachim Löw sah das erwartungsgemäß etwas anders. Er konnte dem Spiel seiner Mannen sehr wohl etwas Positives abgewinnen: "In der Defensive haben wir gut gestanden", bemerkte er. "Da haben wir wenig zugelassen." Stimmt schon: Bis auf einen Lattenknaller hatten die Gäste kaum echte Torchancen zu verbuchen. Aber sie mussten ja auch nicht. Sie führten ja schon ab der 45. Minute mit 1:0.
Es ruckelt in allen Mannschaftsteilen
Aber mit Verlaub: Von einer deutschen Nationalmannschaft muss man einfach vor eigenem Publikum im Auftaktspiel eines WM-Jahres gegen ein keinesfalls überragendes argentinisches Team mehr erwarten dürfen, als dass sie lediglich in der Defensive gut steht. Doch da war nichts. Da kam nichts. Keine Ideen, kein Esprit, kein Spielwitz. Unterm Strich zählten die Statistiker mit viel Wohlwollen eine halbe Torchance in 93 Minuten durch den strammen Schuss des eingewechselten Cacau. Löw bilanzierte folgerichtig: "Uns haben Mut und Entschlossenheit gefehlt. Nach vorne konnten wir dieses Mal keine Akzente setzen." Man wolle zukünftig und bis zum Beginn der WM an der "Detailabstimmung hart arbeiten".
Finetuning könnte man auch sagen. Aber auch dieser Terminus trifft es nicht vollends. In der deutschen Nationalmannschaft existieren gut drei Monate vor Beginn der WM noch zu viele Baustellen. Das Team mit einer einzigen Großbaustelle zu vergleichen, ist sicher falsch. Aber die Niederlage gegen Argentinien hat gezeigt, dass es in fast allen Mannschaftsteilen noch arg ruckelt. Da wäre die Abwehr: Jerome Boateng als rechtes Glied der Viererabwehrkette rechtfertigte gegen die "Albiceleste" zu keinem Zeitpunkt seine Berufung in die Startelf. Die rechte Abwehrseite bleibt für Joachim Löw eine Problemzone. Alternativen drängen sich nicht eben auf. An einen Arne Friedrich mag man zum Beispiel in diesen Hertha-Tagen nur mit Kopfschmerzen denken.
Torhüterfrage nach Adler-Patzer wieder offen?
Auch in der Innenverteidigung hat der Bundestrainer noch immer nicht seine Idealformation gefunden. In München ließen sich Mertesacker und Tasci ein ums andere Mal austanzen. Stabilität sieht anders aus. Man wünscht sich Heiko Westermann von Schalke 04 herbei, auch weil die Spieleröffnung von hinten derzeit eine Katastrophe ist.
Von der Nervosität seiner Vorderleute ließ sich in seinem ersten Spiel als offizielle Nummer 1 im Tor ausgerechnet René Adler anstecken. Kostet ihn sein unnötiger 30-Meter-Ausflug vor dem 0:1 womöglich wieder den Stammplatz? Die "T-Frage" wird nach der Partie gegen Maradonas Argentinier zumindest in der Öffentlichkeit wieder heiß diskutiert werden. Und sie wird für neue Unruhe sorgen. Unruhe, die eine Nationalmannschaft in der heißen Phase der Vorbereitung auf eine WM nicht gebrauchen kann.
Ungewohnte Fehler von Joachim Löw
Im defensiven Mittelfeld wurden zu allem Überfluss viel zu wenige Zweikämpfe gewonnen. Ein Vorwurf, den sich die Herren Schweinsteiger und Ballack anhören müssen. Die beiden bilden im Löwschen System die neue Doppel-Sechs. Gegen Argentinien agierten sie fahrig und überaus fehlerhaft.
Die mit Abstand größten Sorgen bereitet aber der Angriff. Warum Joachim Löw in einer Art Nibelungentreue an Bayerns Reservespieler Miroslav Klose als Stammkraft festhält, bleibt sein Geheimnis. Klose hat natürlich seine Verdienste in der Vergangenheit, aber ihm fehlt Spielpraxis, das konnte jeder der 65.000 Zuschauer in der Arena am Mittwochabend beobachten. Und ihm fehlt es an Selbstvertrauen. Gomez für Klose in der Startelf, das wäre die richtige Entscheidung des Bundestrainers gewesen. So aber vergriff sich Löw - und korrigiert den Fehler erst mit Beginn der zweiten Hälfte.
Und Joachim Löw fabrizierte noch mehr Fehler: Knapp 70 Minuten hielt er am 4-5-1-System mit nur einer Spitze fest. Gegen die ballsicheren Argentinier war das gewissermaßen eine Chancen-Vermeidungs-Taktik. Erst als Löw das System umstellte und den engagierten Cacau als zweite Spitze neben Gomez einbaute, kam ein Hauch Gefahr ins deutsche Spiel.
Müller und Cacau die Gewinner
Überhaupt dieser Cacau, er durfte sich neben den vielen deutschen Verlieren inklusive des Bundestrainers als Gewinner dieses bitterkalten Abends von München fühlen. Der Stürmer mit den brasilianischen Wurzeln überzeugte während seines Kurzeinsatzes mehr als die gesamte deutsche Offensivabteilung in 93 Minuten. Auch Bayerns Debütant Thomas Müller lieferte eine ordentliche Leistung ab und darf auch deshalb weiter auf eine Berufung in den WM-Kader hoffen. Löw lobte: "Thomas Müller stellt auf rechts eine gute Alternative dar."
Cacau und Müller als Gewinner, doch auch für eine Handvoll anderer deutscher Spieler dürfte die Niederlage gegen Argentinien am Ende doch positiv in Erinnerung bleiben. In der Pause, beim Verlassen des Rasens, streckte Diego Armando Maradona nacheinander Bastian Schweinsteiger, Mesut Özil und Philipp Lahm die Hand zum Gruße hin. Wie kleine Jungs eilten die drei zum großen Diego und schlugen ein. Ihr bewunderndes Grinsen war bis hinauf unters Stadiondach zu erkennen. Wenn Fußball doch immer so schön leicht und einfach wäre.