Für Julian Nagelsmann ist es wohl das absurdeste Fußballjahr seines Lebens. Im März noch beim FC Bayern entlassen, weil mit ihm das Triple gefährdet sei – im September als neuer Nationaltrainer vorgestellt, der Deutschland zur Heim-Europameisterschaft führen soll. Raunte man in München Anfang des Jahres noch Nagelsmann hätte die "Kabine verloren", findet er jetzt einen Großteil seiner FC Bayern-Kabine bei der Nationalmannschaft wieder.
Der 36-Jährige freute sich auf seiner Vorstellungs-Pressekonferenz auf das Wiedersehen. Er habe unglaublich gern mit den Spielern zusammengearbeitet, sagte er. Die Freude beruht bei vielen Bayern-Spielern wohl auf Gegenseitigkeit. Leon Goretzka beschrieb Nagelsmann nach dessen Entlassung als "großartigen Menschen und Trainer", auch Joshua Kimmich kommentierte die Freistellung durch die Bayern-Bosse damals mit "wenig Liebe, wenig Herz". Die beiden Mittelfeldspieler werden vom neuen Bundestrainer profitieren. Auch Leroy Sané, Jamal Musiala und Serge Gnabry haben ein gutes Verhältnis zu ihrem alten und neuen Coach. Wen hat Nagelsmann also damals verloren?
"Ein Schlag, als er am Boden lag"
Klar ist: FC Bayern-Torwart und Kapitän Manuel Neuer dürfte das Ende Julian Nagelsmanns in München weniger mitgenommen haben. Die Entlassung seines langjährigen Torwarttrainers und engen Freundes Toni Tapalovic sei für Neuer wie ein Schlag gewesen, als er bereits am Boden lag. "Ich hatte das Gefühl, mir wird mein Herz rausgerissen", sagte Manuel Neuer im Februar der "Süddeutschen Zeitung" in einem viel diskutierten Interview. Eine Entscheidung, die Julian Nagelsmann getroffen hatte und Manuel Neuer nie nachvollziehen konnte. Laut Nagelsmann sei mit Tapalovic nie ein Miteinander entstanden. Die Vorwürfe, dieser hätte Interna aus dem Trainerstab an die Mannschaft weitergegeben, verneinte Neuer damals vehement.
Das alles geschah kurz nach Neuers Ski-Unfall, bei dem er sich das Bein brach und von dem er sich noch immer erholt. So kam es auf dem Trainingsplatz des FC Bayern nicht mehr zur Konfrontation zwischen Neuer und Nagelsmann – stattdessen nun beim DFB.
Auf die Frage nach Neuers möglicher Rückkehr ins DFB-Tor sagte Nagelsmann: "Das Allerwichtigste ist, dass wir Manu genügend Zeit geben, gesund zu werden und ihn wieder 100 Prozent leistungsfähig bekommen. Wenn die Situation eintritt, werden wir das bewerten." Die Lage um Neuers Gesundheitszustand ist recht unklar, immerhin trainiert er wieder mit den anderen Bayern-Torhütern. Sich zum jetzigen Zeitpunkt auf eine Nummer eins festzulegen, dürfte Nagelsmann deshalb kaum möglich sein. Neuers Qualitäten als mehrmaligen Welttorhüter und eigentlichen Kapitän der Nationalmannschaft unterstrich der neue Trainer aber auch nicht.
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Julian Nagelsmann will Sommermärchen wiederholen
Stattdessen verwies der neue Bundestrainer auf die anderen "Weltklasse-Torhüter" im DFB-Kader. Sollte Marc-André Ter Stegen nicht einen plötzlichen Leistungsabfall erleben, wird es für Neuer schwer werden, an ihm vorbeizukommen. Beim FC Barcelona stellte er in der vergangenen Saison einen neuen Zu-Null-Rekord in der spanischen Liga auf, gegen Japan verhinderte er ein noch schlimmeres Debakel für den DFB. Manuel Neuer müsste zu seiner Bestform zurückfinden, um bei der EM im Tor zu stehen – und womöglich auch seine persönlichen Differenzen mit Nagelsmann aus dem Weg räumen.
"Ein Sommermärchen 2.0 ist die Idealvorstellung. Ich werde alles dafür tun, dass das wieder passiert", sagte Nagelsmann am Morgen bei seiner Vorstellung. Die WM 2006 zeigte, dass ein Torwartwechsel kurz vor dem Heim-Turnier zum Erfolg führen kann. Damals machte Jürgen Klinsmann Jens Lehmann zur neuen Nummer eins. Der ehemalige Welttorhüter Oliver Kahn sah nur vom Seitenrand zu und beendete danach seine Nationalmannschaftskarriere. Ein mögliches Szenario, das Neuer nicht gefallen dürfte.
Quellen: "Süddeutsche Zeitung", "Sky Sport", "Spiegel"