Auftaktdebakel Zweckoptimismus bei Ullrich

Der Schock nach der ersten Etappe saß tief. Doch obwohl Seriensieger Lance Armstromg auch in diesem Jahr in einer anderen Liga zu fahren scheint, will Jan Ullrich die Flinte noch nicht ins Korn werfen.

Die 92. Tour de France scheint nach nur 19 Kilometern bereits entschieden. Mit ehrfürchtigem Staunen reagierte die geschlagene Konkurrenz auf den denkwürdigen Auftritt von Lance Armstrong. Gleich auf der ersten Etappe blieb selbst dem vermeintlich stärksten Widersacher des Amerikaners eine Demütigung nicht erspart. Dreieinhalb Kilometer vor dem Ziel "flog" er beim Einzelzeitfahren scheinbar mühelos an Jan Ullrich vorbei - für die deutsche Tour- Hoffnung ein bisher unbekanntes Erlebnis der demoralisierenden Art. Nur wenig später gab sich der Tour-Monarch aus Texas ähnlich siegessicher wie zuvor auf der Strecke: "Ich hatte großen Appetit und wollte zeigen, dass ich diesem Rennen verpflichtet bin."

Alle Hoffnungen seiner Widersacher, dass der Erfolgshunger von Armstrong nach seinem historischen sechsten Gesamtsieg im Vorjahr kleiner geworden sein könnte, waren vergebens. Auch beim letzten Rad- Rennen seines Lebens ist er in Topform. "Der Rücksichtslose", titelte die französische Sportzeitung "L’Équipe". Abgekämpft und gefrustet sprach sich Ullrich, der bei einem Zeitfahren erstmals überholt worden war, nach der Schlappe auf der 19 Kilometer langen Strecke von Fromentine zur Insel Noirmoutier selbst Mut zu: "Natürlich ist das nicht gerade mein Glückstag. Dennoch will ich nicht von einem Einbruch sprechen."

Mit ähnlichem Zweckoptimismus trösteten sich auch andere. Bis auf den Kasachen Alexander Winokurow vom Ullrich-Team T-Mobile verloren alle Mitfavoriten wie Ivan Basso (CSC), Floyd Landis (Phonak) und Iban Mayo (Euskaltel) bereits über eine Minute auf Armstrong - der enttäuschende Vorjahreszweite Andreas Klöden zwei. Einzig David Zabriskie, der zwei Sekunden vor seinem Landsmann Armstrong ins Ziel kam und deshalb als erster Fahrer das Gelbe Trikot überstreifte, war konkurrenzfähig. Der Tour-Neuling vom starken dänischen Rennstall CSC wird spätestens in den Bergen reichlich an Boden verlieren, ist aber ein Trumpf für das Team-Zeitfahren am Dienstag.

Ullrichs Kapitänsrolle vorerst nicht in Frage

Noch steht die Strategie im T-Mobile-Team laut Manager Olaf Ludwig nicht in Frage. "Darauf hat dieses Rennen keinen Einfluss." Obwohl der schon bei der Dauphiné-Rundfahrt glänzend aufgelegte Winokurow selbst in der Paradedisziplin von Ullrich 15 Sekunden auf seinen Teamchef gutmachte, soll die Hierarchie vorerst nicht überdacht werden. Schließlich könnte der Trainingsunfall des zwölftplatzierten Ullrich, bei dem er sich 24 Stunden vor dem Tour-Start Schnittwunden am Hals zugezogen hatte, die Niederlage verursacht haben.

Der zum Saisonende scheidende Manager Walter Godefroot warb um Verständnis: "Jeder, der mal Rennen gefahren ist, weiß, wie bescheiden man sich am Morgen nach einem solchen Sturz fühlt." Viel wird davon abhängen, wie Ullrich die Geschehnisse verkraftet. Sein Berater Rudy Pevenage ist in Sorge: "Das Überholen war für Jan genauso schockierend wie der Unfall." Noch will sich der Tour-Sieger von 1997 nicht aufgeben: "Was mir hilft, ist die Erkenntnis, dass es bei meinem Sturz am Freitag auch ganz anders hätte ausgehen können."

Schon beim Mannschaftszeitfahren am Dienstag nach Blois droht jedoch neues Unheil. Gut möglich, dass sich der Abstand zwischen Armstrong und Ullrich weiter vergrößert. Denn in den letzten beiden Jahren war das von Armstrong angeführte US-Postal-Team in dieser Disziplin nicht zu schlagen. Zusammen mit seinen neuen Gefährten vom Team Discovery Channel plant der Titelverteidiger einen neuerlichen Coup. Der Wunsch von Ullrich, diesmal ohne großen Rückstand in die Berge zu gehen, wäre dann passé - genau wie der mit Spannung erwartete Zweikampf mit seinem langjährigen Widersacher.

Fast scheint es, als könnte sich Armstrong auf seinem Weg zum siebten Gesamtsieg in Serie nur selbst im Weg stehen. Nämlich dann, wenn er den scheinbar mühelosen Erfolg über die Konkurrenten beim Tour-Auftakt als sicheres Indiz für weitere Erfolge wertet. Dieser Gefahr will sein Sportlicher Leiter Johan Bruyneel vorbeugen: "Heb jetzt bloß nicht ab", beschwor er Armstrong, "bis nach Paris sind es noch über 3000 Kilometer."

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Heinz Büse und Andreas Zellmer/DPA

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