Die Deutschland-Tour machte Jan Ullrich Appetit auf mehr. Vom badischen Bretten, wo das schwere Zeitfahren für ihn am Sonntag mit einem zweiten Platz zu Ende ging, schweifte sein Blick nach Paris. Dort hat der Olympiasieger am 27. Juli, wenn die Jubiläums-Tour-de-France auf die Champs Elysees einbiegt, das Podium im Blick. Der Traum vom zweiten Sieg nach 1997 verbietet sich wegen der bekannten Dominanz des vierfachen Siegers Lance Amstrong und der langen eigenen Renn-Abstinenz von Januar 2002 bis April 2003. "Der zweite Platz in Paris wäre gigantisch", erklärte Ullrich, nachdem ihm die beste Deutschland-Tour seiner Karriere Mut gemacht hatte. Der Taktiker Armstrong stimmte schon eine Lobeshymne an: "So gut war Jan zu diesem Zeitpunkt noch nie in Form."
Woche der Wahrheit für Ullrich
"Ich hätte vorher nicht gedacht, dass es hier nach dem ganzen Theater der letzten Monate schon so gut läuft. Ich fühle mich nicht kaputt und hoffe, dass das noch nicht meine Höchstform war", sagte Ullrich, der die "Woche der Wahrheit" bei der Deutschland-Tour mit Rang 18 auf dem Feldberg und dem zweiten Platz in Bretten knapp vier Wochen vor dem Start der Frankreich-Rundfahrt mit positiven Prognosen überstanden hat. Hauptziel für seine sechste Tour-Teilnahme bleibt, "eine schöne, schwere Etappe zu gewinnen". Er will kämpfen und sich quälen wie 2001 - aber mit anderer Einstellung: "Ich mache mir keinen Druck und lasse mir auch keinen aufzwingen." Der werdende Vater hat einen Wunsch: "Hoffentlich noch vor der Tour, dann kann ich dabei sein."
Locker wie lange nicht
Ullrich kommt in seinem aus der Konkursmasse der Coast-Mannschaft aus dem Boden gestampften Bianchi-Team anders als zu Telekom-Zeiten ohne "PR-Bodyguard" aus. Der 29-Jährige wirkte so locker wie lange nicht. Für die Schinderei auf dem Rad hat er sich nach zwei überstandenen Knie-Operationen, nach Extasy-Affäre und Fahrer-Flucht unter Alkohol- Einfluss eine neue Philosophie zurecht gelegt: "Ich fühle mich fast wie ein Neo-Profi. Ich fahre nur noch aus Lust Rad und freue mich jeden Tag, dass nichts wehtut."
Bis zum Tourstart am 5. Juli hat Ullrich noch ein volles Programm, das um den Grand Prix Gippingen erweitert wurde. Danach fährt er die Tour de Suissse, dann am 29. Juni die deutsche Meisterschaft in Spalt bei Nürnberg. Armstrong, der ihn bei der Tour zwei Mal bezwang, begann seinen Countdown für Frankreich am Sonntag mit Platz drei im Prolog bei der Dauphiné Liberée nach 42 Tagen Renn-Pause.
Potenzial der Mannschaft
So zufrieden Ullrich mit der eigenen Entwicklung sein kann, so skeptisch müsste er auf einen Teil seiner Mannschaft schauen. Die Spanier um den Vuelta-Sieger Angel Casero, David Plaza und Aitor Garmendia machen im Moment nicht den stärksten und motiviertesten Eindruck, auch wenn Ullrich und sein Betreuer Rudy Pevenage das kollektive Fahren an der Spitze des Feldes vor dem Feldberg als intaktes Teamwork werteten. "In der Mannschaft steckt riesiges Potenzial", meinte Ullrich.
Pevenage will zwar im Großen und Ganzen in Frankreich auf die Mannschaft der Deutschland-Rundfahrt zurückgreifen. Der Belgier, der vor dem Tourstart auch noch einen Sponsor präsentieren will, stellte am Sonntag aber noch eine Last-Minute-Verpflichtung in Aussicht. Damit meinte er ausdrücklich nicht Marco Pantani, der sich selbst ins Gespräch gebracht hatte. Für 2004 steht auch der Telekom-Sprinter Danilo Hondo auf der Bianchi-Wunschliste. "Wir müssen uns auf alle Fälle verstärken, das hängt aber in erster Linie vom Budget ab", sagte Ullrich.