Es erreichen uns wieder die Bilder, von denen man glaubte, es könne sie doch nicht mehr geben. Abgemagerte Kinder, verendetes Vieh, verzweifelte Menschen, die sich zu Flüchtlingslagern schleppen. Überdeckt vom Krieg in der Ukraine nimmt der Hunger in Ostafrika und besonders in Somalia derzeit dramatisch zu. Bis zu 28 Millionen Menschen sind von schwerem Hunger bedroht, vor allem, weil gleich mehrere Regenzeiten weit unter Durchschnitt blieben oder in manchen Regionen gar komplett ausfielen. Auch in dem kenianischen Dorf Kinakoni, mit dessen Menschen stern und Welthungerhilfe gemeinsam Lösungen gegen den Hunger finden wollen, leiden die Menschen dieser Tage unter der Dürre. Kein einziger Tropfen sei bislang dort gefallen, berichten die Bewohner – obwohl der Regen dem normalen Rhythmus gemäß schon vor Wochen hätte einsetzen wollen. Wissenschaftler sehen darin auch eine Folge des Klimawandels.
Die Not der Menschen findet allerdings kaum Gehör: Nur drei Prozent der insgesamt sechs Milliarden US-Dollar, die die Vereinten Nationen zum Beispiel 2022 für die humanitäre Hilfe in Äthiopien, Somalia und dem Südsudan aufbringen müssen, sind bisher gesichert. Erschwert wird die Lage sowohl für Hilfsorganisationen wie auch die Menschen vor Ort durch extreme Preissteigerungen auf den globalen Getreidemärkten – eine Folge des Kriegs in der Ukraine. Rafael Schneider ist Ernährungsexperte bei der Deutschen Welthungerhilfe. Wir sprachen mit ihm über die globalen Zusammenhänge – und die drastischen Konsequenzen.
Herr Schneider, Russland führt Krieg gegen die Ukraine, beide Länder gehören zu den wichtigsten Getreidexporteuren. Erreichen noch Lieferungen von dort den Weltmarkt?
Derzeit nicht, zumindest nicht so, dass es sich nachvollziehen lässt. Die ukrainischen Häfen sind blockiert. Und Russland hat einen Exportstopp verhängt. Wahrscheinlich liefert Russland aber noch nach China.

Aber es gelangt eben kein Getreide mehr in Regionen, die davon abhängig sind – nach Nord- und Ostafrika zum Beispiel.
Genau. Da kommt im Moment nichts an.
Wie wichtig sind denn die Ukraine und Russland für den Weltmarkt bei Getreide?
Beide Länder stellen gemeinsam 30 Prozent des weltweit gehandelten Getreides, besonders Weizen, Mais, und aus der Ukraine auch Sonnenblumenöl.
Sind die Getreidespeicher denn in den betroffenen Regionen schon leer?
Die Lager sind relativ gut gefüllt gewesen in vielen Ländern, abgesehen von Kriegsregionen wie etwa Äthiopien. Auch, weil man aus der letzten großen Preis-Krise auf dem Nahrungsmittelmarkt 2007-2008 gelernt hat. Aber auch die vollsten Lager können eine Unterbrechung der Lieferungen über Monate nicht ausgleichen.
Wann wird es kritisch?
Es ist schon jetzt kritisch. Die ausfallenden Getreidelieferungen sind noch nicht der entscheidende Faktor – es sind die hohen Weltmarktpreise. Die sind schon angekommen, die merken die Menschen schon jetzt.
Von welchen Dimensionen reden wir?
Der Börsenpreis für Weizen hat sich zum Beispiel verdoppelt.

Das Problem ist also im Moment noch nicht die Ware, die knapp ist – sondern der Preis, der hoch ist, in Folge der antizipierten Knappheit.
Ja. Die Welternte im vergangenen Jahr war nicht schlecht, besser sogar als im Jahr davor. Aber der Preisschock ist überall angekommen, gerade bei Ländern mit hohen Importquoten: Kenia etwa führt 56 Prozent seines Weizens ein. Dazu kommt: Bei uns kaufen wir meist die verarbeiteten Getreideprodukte, also Brot oder Nudeln. In vielen Entwicklungsländern kaufen die Menschen aber Mehl oder Mais als Rohprodukt – der Preisschock ist also unmittelbarer.
Welche Regionen der Welt sind besonders betroffen?
Eigentlich sind alle davon betroffen. Auch wir. Was wir jetzt an der Tankstelle erleben, das werden wir nach und nach im Supermarkt sehen. Aber natürlich spüren das arme Menschen viel deutlicher – vor allem die 1,8 Milliarden Menschen, die mit weniger als drei Euro am Tag auskommen müssen. Wir in Deutschland geben ja 15 Prozent unseres Einkommens für Nahrungsmittel aus – in diesen Ländern des Globalen Südens brauchen die Menschen dafür 30, manchmal auch 80 Prozent ihres Einkommens. Und wenn die Preise weiter steigen, kommen diese Familien irgendwann in die Situation, dass sie Mahlzeiten auslassen müssen, sie rutschen in den Hunger ab.
Wo geschieht das?
Nicht nur in Ländern, die besonders hohe Importquoten aus der Ukraine oder Russland hatten, wie Ägypten. Denn diese Länder sind ja auch Handelsplätze für die Region. Deswegen sind zum Beispiel auch die Länder in Ostafrika stark betroffen.
Spielen Spekulationen eine Rolle bei den Preissteigerungen?
Spekuliert wird immer. Die Preisspitzen kommen mit Sicherheit auch dadurch zustande – das Grundproblem ist aber die Unklarheit über das Angebot: Wird noch ausgesät? Wird noch geerntet? Wird noch exportiert?
Wie gehen denn Hilfsorganisationen wie Ihre, die Welthungerhilfe, mit der Lage um? Sie müssen Ihre Lebensmittelnothilfe ja auch irgendwo kaufen.
Die meisten Hilfsorganisationen versuchen heute auf lokalen Märkten zu kaufen. Bei uns liegt die Quote zum Beispiel bei 80 Prozent. Früher war das zum Teil anders. Die USA zum Beispiel kauften ihre Nahrungsmittelhilfe lange Zeit fast ausschließlich von amerikanischen Farmern, das war gesetzlich so festgelegt. Und schickten die Getreidesäcke dann um die halbe Welt.
Das System diente also dazu, amerikanische Farmer und amerikanische Reedereien zu subventionieren.
In gewisser Weise ja. Heute aber orientieren sich die meisten Länder und Organisationen an dem Prinzip der "Localization": Durch den Einkauf möglichst vor Ort oder in der Region sollen die lokalen Märkte gestärkt und Abhängigkeiten vermieden werden. Aber natürlich hat das World Food Programm auch Lieferverträge mit der Ukraine. Und wenn die nicht erfüllt werden können, dann fehlt tatsächlich der Nachschub. Das große Problem ist aber ein anderes.
Nämlich?
Es fehlen die Gelder. Wenn die Preise um 30 Prozent steigen, Geberländer oder -organisationen aber nicht mehr Geld bereitstellen oder sogar bestehenden Zusagen nicht nachkommen, dann bedeutet das, dass Rationen gekürzt werden müssen. Das sehen wir jetzt in Ostafrika.

Erst die Pandemie, dann die Dürre, jetzt der Preisschock – braut sich ein perfekter Sturm zusammen?
Ja, so könnte man es tatsächlich beschreiben. Schon jetzt leiden 800 Millionen Menschen auf der Welt Hunger – die Zahl könnte dramatisch zunehmen. Bei der letzten große Preiskrise 2007-2008 wurden nach Schätzungen 40 Millionen Menschen zusätzlich in den Hunger getrieben. Und da gab es kein Corona, kein Problem des Düngemittelnachschubs, kein Krieg in der Urkaine.
Wie sind denn die Aussichten für die kommenden Monate?
Was die Ukraine angeht, ist die Produktion noch nicht zum Erliegen gekommen – außer natürlich in den Gebieten, wo gekämpft wird. Denn der Winterweizen wurden ja schon im vergangenen Oktober ausgesät, die Ernte steht für Mai an. Und die Aussaat von Mais kommt erst noch. Wenn aber sowohl die Ernte wie auch die Aussaat durch den Krieg schwierig oder gar unmöglich gemacht werden sollten, wenn es also auch zu physischen Ausfällen kommt, und das ist ja die große Sorge – dann wird es tatsächlich dramatisch.