Deutscher Manager Allein unter chinesischen Kadern

Von Jan Philipp Sendker
Er ist ein Exot im Reich der Mitte: Als einer der ganz wenigen Ausländer sitzt Gerhard Hinterhäuser im Vorstand eines chinesischen Staatsbetriebes sitzt. In der Volksrepublik hat Hinterhäuser mit der Zeit viel gelernt - nicht nur über die Chinesen.

Gerhard Hinterhäuser ist ein ausgesprochen geduldiger Mensch. Dreißig Jahre Zusammenarbeit mit Asiaten haben ihn diese Eigenschaft gelehrt. Aber es gibt Momente, da steht selbst sein Langmut auf einer harten Probe. Manche Vorstandssitzungen zum Beispiel. Wenn dort zwanzig Seiten lange Berichte langsam und laut vorgelesen werden, obgleich sie jeder Teilnehmer bereits Tage zuvor zur Ansicht bekommen hat. Die Uhr scheint still zu stehen. Auf Hinterhäusers vorsichtige Frage, ob das nicht unter Umständen Zeitverschwendung sei, nickten alle Kollegen zustimmend. Ändern tat sich trotzdem nichts.

"Da hilft", sagt er lächelnd, "nur asiatische Gelassenheit." Gerhard Hinterhäuser gehört zu den ganz wenigen Ausländern, die in China Einblick in eine sonst verborgene Welt haben: Er sitzt im Vorstand eines chinesischen Staatsbetriebes. Der 52jährige arbeitet für die MEAG, der Vermögensverwaltungsgesellschaft der Münchner Rück, in der Führungsetage der PAMC. Das ist eine Tochterfirma der PICC, dem mit über 90.000 Angestellten, größten Versicherungskonzern Chinas. Die PAMC ist auf Vermögensberatung spezialisiert, im Wirtschaftswunderland China mit seinen vielen neuen Reichen ein boomendes Geschäft. Der deutsche Rückversicherer kaufte vor zwei Jahren neunzehn Prozent der PAMC und damit das Recht, einen Vorstandsposten zu besetzen. Eine schwierige Aufgabe.

Deutsche Effizienz und chinesische Flexibilität

Welcher deutsche Manager ist schon in der Lage, sich in den bürokratischen Wirrungen eines stattlichen Konzerns in China zurechtzufinden? Wem kann man zutrauen, die kulturellen Unterschiede zu überbrücken? Deutsche Effizienz und Ethik mit chinesischer Flexibilität und Improvisationskunst zu kombinieren? Und alles auf Chinesisch.

Die Wahl fiel auf Hinterhäuser, 52, der bereits 1976 als Zwanzigjähriger ein Jahr in China studierte. Er ist eine Art Weltbürger mit europäischen Wurzeln. Geboren in Bonn, Vater Deutscher, Mutter Italienerin, mit einer Japanerin verheiratet, neben Deutsch und Italienisch auch noch Französisch, Japanisch und Mandarin sprechend. Seine Affinität zu China hatte früh begonnen, schon als Kind, berichtet seine Mutter, verkleidete er sich zum Fasching am liebsten als kleiner Chinese.

Eine lebenslange Leidenschaft

Trotzdem wollte er nach der Schule Französisch studieren. Sein Vater riet ihm ab: Französisch sprächen viele, er solle es lieber mit etwas exotischerem versuchen. Hinterhäuser entschied sich für Volkswirtschaft und Sinologie. Daraus entstand eine lebenslange Leidenschaft. "Wer sich mit China befasst, gibt entweder schnell wieder auf oder tut das für den Rest seines Lebens."

Er wurde Banker, hat von den vergangenen 23 Jahren fast zwanzig in Asien verbracht, in Tokio, Singapur und Hongkong gelebt und in dieser Zeit von den Asiaten "viel gelernt, auch über mich selbst". Er hat einen Hang zum Fatalismus in sich entdeckt, wie er in vielen asiatischen Kulturen weit verbreitet ist. Oder sein Bedürfnis nach Harmonie. Er ist kein Mensch, der bei Verhandlungen mit der Faust auf den Tisch haut. Eher jemand, der sich zurücknimmt und versucht, Konflikte diplomatisch zu lösen. Was im Westen als Führungsschwäche ausgelegt werden könnte, kommt ihm im Reich der Mitte zu gute. "Deshalb fühle ich mich in Asien ebenso zuhause wie im Westen."

Immer wieder stößt er an Grenzen

Das erleichtert seine Arbeit in China - einfach ist sie trotzdem nicht. Er ist der einzige westliche Ausländer im Unternehmen, seine Kollegen behandelten ihn vom ersten Tag an freundlich und mit großem Respekt, trotzdem stößt er immer wieder an Grenzen.

"Ein chinesischer volkseigener Betrieb funktioniert nun mal nach anderen Regeln, als ein deutscher Versicherungskonzern", sagt er und blickt nachdenklich aus dem Fenster. Wir sitzen in seinem Büro im zehnten Stock des "Bank of China" Turms im Shanghaier Stadtteil Pudong. Auf dem Schreibtisch vor ihm stehen zwei Telefone, daneben liegen zwei Handys. Das eine zeigt die neuesten Zahlen von den chinesischen Börsen an, das andere die aus New York. Vor ihm ragen ein Dutzend neuer Wolkenkratzer in den Himmel. Und Kräne. Die nächste Generation von Hochhäusern wächst im Eiltempo aus der Erde, die übernächste wird bereits geplant, ganz Pudong gleicht einer Baustelle, zwei Millionen Quadratmeter Bürofläche entstehen gerade um ihn herum.

Wichtige Entscheidungen trifft die Partei

"Die Arbeit hier", sagt er nach einer Pause, "ist bürokratischer, mehr an der Gruppe orientiert, auf Konsens bedacht. Dadurch brauchen Veränderungen viel Zeit." Hinterhäuser musste lernen, dass die Kunst des Delegierens im Reich der Mitte noch wenig verbreitet ist. Mitarbeiter fühlten sich zuweilen überfordert, wenn er ihnen zu viel Entscheidungsfreiheit gab. Sie sind an klare Vorgaben oder Beschlüsse in der Gruppe gewöhnt, möglichst einvernehmlich. Verantwortung zu übernehmen ist ein schwieriger Lernprozess. Wer eigenverantwortlich entscheidet, macht auch Fehler. Und Fehler wollen chinesische Angestellte unter allen Umständen vermeiden. Hinterhäuser musste akzeptieren, dass viele wichtigen Entscheidungen weder der Vorstand oder ein Aufsichtsrat trifft, sondern die Partei. Von den sieben Vorstandsmitgliedern gehören vier der KP Chinas an, sie müssen sich und ihr Handeln Parteisekretären gegenüber verantworten, zusätzlich zu den Aktionären.

Hinterhäuser ist unter anderem für das Risikomanagement zuständig. Zu seinen Aufgaben gehört es, Marktrisiken, Wertpapierpositionen und Kreditrisiken zu bewerten.

Außerdem ist er für die "Compliance" verantwortlich, das bedeutet, er muss darauf achten, ob sich das Unternehmen auch an das eigene geschäftliche und ethische Regelwerk hält.

Verhaltenskatalog nach westlichem Standard

Nach dem Einstieg der Münchner Rück kam aus Deutschland auf beiderseitigen Wunsch erst einmal eine Delegation, die die Organisationsstruktur der Firma analysierte und Verbesserungsvorschläge machte. So wurde zum Beispiel die Stelle eines Compliance Officers geschaffen und ein Verhaltenskatalog erarbeitet, der vom Insidertrading bis zur Vergabe und Annahme von Geschenken Richtlinien für die Geschäftspraktiken festlegte. "So etwas gab es hier vorher gar nicht." Regelmäßig finden Schulungen und Seminare statt, in denen Mitarbeiter aus München ihre chinesischen Kollegen weiterbilden. Das Regelwerk entspricht nun westlichem Standard. Wird es auch befolgt?

"Ich bin hier nicht als Polizist angestellt", sagt Hinterhäuser. "Aber wenn ich Verstöße beobachte, bringe ich das zur Sprache. Meine Aufgabe ist vor allem, ein Bewusstsein zu schaffen und die Einhaltung immer wieder anzumahnen." Dabei prallen manchmal unterschiedliche Geschäftskulturen aufeinander. In China ist es üblich, sich häufig und großzügig zu beschenken. Eine teure Uhr oder ein feiner Anzug zum Beispiel werden als akzeptabel angesehen, Geschenke, die in Deutschland bereits unter Korruptionsversuche fallen würden.

Wichtig, die Integrität zu wahren

Oder die beliebte Abendunterhaltung. Während in Deutschland ein Geschäftsessen nach dem Dessert endet, ziehen Chinesen gern noch weiter in eine Karaokebar. Auch diese Angebote lehnt er ab, freundlich, aber bestimmt. "Ich mache nichts, was mich in irgendeiner Art kompromittieren könnte. Es ist wichtig, dass man seine persönliche Integrität wahrt. Sonst verliert man den Respekt der chinesischen Partner."

Er pendelt wöchentlich zwischen Hongkong, wo er die MEAG leitet, und Shanghai. Wenn er abends vom Flughafen ins Zentrum fährt und auf einer der hochgelegten Autobahnen durch die Nacht gleitet, traut er manchmal seinen Augen kaum. Unter ihm führt eine weitere Schnellstraße in die Stadt. Und irgendwo darunter noch eine. Autos, Hochhäuser, Menschen, soweit der Blick reicht. Siebzehn Millionen rastlose Einwohner. An jeder Ecke flimmern rote, gelbe, blaue oder grüne Neonreklamen. In solchen Momenten gehen ihm Bilder von seiner ersten Reise nach China durch den Kopf. 1976 war das Jahr, in dem Mao starb. Es herrschte die Viererbande. Viele Läden waren leer, westliche Lebensmittel wie Kaffee oder Käse gab es gar nicht. Die wenigen Telefone oder Autos waren den Parteibonzen vorbehalten. Jeden Morgen um sechs Uhr weckte ihn die Marschmusik der Revolution. "Der Osten ist rot" schallte es aus den Lautsprechern im Studentenwohnheim. "Deng Xiaoping ist ein Verräter, ein Wegbereiter des Kapitalismus" krächzte die Stimme der politischen Propaganda.

"Selbst für mich, der das Land gut kennt, ist das Tempo der Veränderung manchmal kaum zu glauben", sagt er. Aus dem Verräter Deng ist der nach Mao mächtigste politische Führer geworden, aus dem ehemaligen Studenten mit den Jahren ein Grenzgänger, der versucht, westliches Verständnis von Rechtsempfinden, von Meinungsfreiheit und Fairness mit den chinesischen Realitäten zu vereinbaren. Dabei kommt es manchmal zu erstaunlichen Koalitionen. Als er kürzlich auf einer Konferenz dem Vorsitzenden des Vorstands eine Frage stellte, die dem nicht behagte, reagierte der Mann ungehalten und wurde laut. Zu Hinterhäusers Überraschung waren es seine chinesischen Kollegen, die ihn unterstützten und dem Chef Einhalt geboten. Das sind Momente, in denen er weiß, dass sich in China nicht nur die Fassaden ändern. "So ein offener Widerspruch", sagt er, "wäre früher undenkbar gewesen."

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