Herr Dettmers, Handwerker sind kaum noch zu bekommen, Pflegekräfte haben wir viel zu wenige, und auch in der Reisebranche fehlt es an Personal. Sie sagen, das ist erst der Anfang einer großen "Arbeiterlosigkeit", die die ganze Gesellschaft erfasst. Wie schlimm wird es denn noch?
Wir reden seit zehn Jahren vom Fachkräftemangel und können es eigentlich nicht mehr hören. Dabei stehen wir erst ganz am Anfang einer viel größeren, strukturellen Herausforderung. Denn genau jetzt fängt die erwerbstätige Bevölkerung an zu schrumpfen. In den nächsten fünf Jahren noch langsam, dann immer schneller. Und damit wird die wichtigste Ressource unserer Wirtschaft knapp: der Mensch. Das betrifft Deutschland, aber auch Europa, und schon bald sämtliche Industrienationen. Denn in keiner entwickelten Volkswirtschaft reichen die Geburtenraten noch aus, um die Bevölkerung stabil zu halten. Die Arbeiterlosigkeit wird damit eine Riesenherausforderung. Der Fachkräftemangel, den wir zum Beispiel gerade im Handwerk und in der Pflege erleben, ist da nur ein Vorbote.
In welchen Bereichen werden wir als nächstes spüren, dass es zu wenig Leute gibt?
Wir werden es überall dort spüren, wo es qualifiziertes Personal braucht. Wir haben in den letzten zwei Jahren unser Geld in der Pandemie hauptsächlich für Dinge ausgegeben, die wir bestellen konnten. Jetzt gehen wir wieder mehr raus, nutzen Dienstleistungen im Tourismus, im Freizeitbereich, in der Gastronomie. Und damit spüren wir viel direkter, dass uns Personal an allen Ecken und Enden fehlt. Das führt zu Chaos an Flughäfen und verkürzten Öffnungszeiten in Schwimmbädern. Festivals werden abgesagt, Freizeitparks öffnen nicht mehr jeden Tag, Restaurants stellen ihren Lieferservice ein, weil sie keine Fahrer mehr finden.
Ist der Personalmangel zum Beispiel in der Reisebranche nicht nur ein vorübergehendes Phänomen, weil sich in der Coronakrise viele umorientiert haben, die man nun zurückholen kann?
Es gibt sicherlich Corona-Sondereffekte. An den Flughäfen etwa arbeiten 20 Prozent weniger Menschen als vor der Pandemie. Aber diese Menschen sind ja nicht arbeitslos, sondern sie arbeiten woanders, die kann man nicht so einfach zurückholen. Was wir in der Reisebranche erleben, ist ein Ausblick auf eine Zeit, in der wir generell weniger Arbeitskräfte haben werden. Personal wird überall fehlen.
Wo sehen Sie die Lage besonders kritisch?
Auf einen Schwimmbadbesuch kann man zur Not mal verzichten. Besonders kritisch wird es zum Beispiel im Bereich der Pflege. Wir haben immer mehr alte Menschen, die wir versorgen wollen, und immer weniger junge Menschen im Erwerbsalter. Kritisch wird es auch im öffentlichen Dienst: Bis 2030 werden nahezu bis zu einer Million Stellen im öffentlichen Dienst unbesetzt bleiben, da geht es wirklich an die Infrastruktur dieses Landes.
Nimmt die Digitalisierung und Automatisierung uns nicht immer mehr Arbeit ab, weil Roboter und Künstliche Intelligenz viele Jobs übernehmen können?
Ja, wir haben immer mehr Maschinen, Computer und Algorithmen. Aber der Fortschritt bei der Produktivität reicht nicht. An den liegen gebliebenen Koffern an Flughäfen sieht man, dass wir viele Dinge eben noch nicht automatisiert haben. Gerade im Dienstleistungsbereich und in der öffentlichen Verwaltung brauchen wir ganz dringend eine Beschleunigung der Digitalisierung. Sonst besteht die Gefahr, dass die verbleibenden Arbeitskräfte sogar mehr arbeiten müssen, um die anstehenden Aufgaben zu erledigen. Das kann nicht unser Ziel sein.
Was bedeutet das nun für Arbeitnehmer? Werden Sie Traumgehälter fordern können, weil Arbeitskräfte so knapp sind? Oder werden sie mehr schuften und bescheiden sein müssen, weil die Zeiten wirtschaftlich schwierig werden und Unternehmen gar keine Traumgehälter zahlen können?
Auf der einen Seite erwarten wir goldene Zeiten für Arbeitnehmer. Arbeitskräfte werden immer knapper und begehrter, das treibt die Gehälter. Das beobachten wir auch jetzt schon. Es besteht aber auch die Gefahr, dass wir langfristig in eine Stagnation oder sogar lange Rezession reinrutschen, weil wir weniger Arbeitskraft haben und nicht ausreichend produktiver werden. Bis 2035 scheiden vier bis sechs Millionen Menschen aus dem deutschen Arbeitsmarkt aus, das werden wir kaum kompensieren können.
Wie können wir gegensteuern?
Wenn immer weniger arbeitende Menschen einen immer größer werdenden Sozialstaat finanzieren sollen, brauchen wir ein Upgrade auf Arbeit, ein Upgrade auf Bildung und Weiterbildung. Gerade im Niedriglohnsektor müssen wir viele Dinge automatisieren und dafür höherwertige Arbeit schaffen. Aktuell ist in Deutschland jeder Fünfte im Niedriglohnsektor beschäftigt. Ein Fünftel der 15-jährigen Kinder kann nicht auf Grundschulniveau lesen. Das kann nicht der Anspruch eines Hochtechnologielandes sein.
Brauchen wir angesichts der niedrigen Geburtenraten auch mehr Zuwanderung?
Absolut. Wir sind ohnehin ein Zuwanderungsland. In vielen Studien ist Deutschland das beliebteste nicht-englischsprachige Ziel von Zuwanderern. Wir haben auch mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz die Grundlagen. Aber wir werben nicht um qualifizierte Zuwanderer wie andere Länder. Wir brauchen perspektivisch eine halbe Million Zuwanderer pro Jahr. Und wir müssen uns um bessere Integration und gute Bildung für diese Menschen kümmern.
Was müssen Arbeitgeber tun, um die knappen Arbeitskräfte für sich zu gewinnen?
Wir beobachten jetzt schon, dass Unternehmen sich viel mehr bemühen herauszustellen, was sie einzigartig macht. In Stellenanzeigen wird vermehrt auf Homeoffice-Möglichkeiten hingewiesen, auf nicht-monetäre Benefits, auf die Unternehmenskultur. Für das Wachsen und Überleben von Unternehmen wird es ganz entscheidend sein, dass sie in der Lage sind, noch Mitarbeiter zu gewinnen und zu binden. Denn auch das beobachten wir: Die Menschen wechseln immer häufiger den Job, was per se gut ist, denn wir brauchen Durchlässigkeit.
Wie können die Unternehmen ihre guten Mitarbeiter binden?
Gute Gehälter sind natürlich wichtig. Unternehmen müssen ihren Mitarbeitern aber auch viel stärker kommunizieren, welchen Sinn ihre Tätigkeit hat, welchen Beitrag sie für die Gesellschaft leisten. Und sie müssen in Weiterbildung investieren, um ihre Mitarbeiter in einer sich schnell wandelnden Arbeitswelt immer wieder auf neue Herausforderungen vorzubereiten. Dadurch wird die Arbeit abwechslungsreicher und Mitarbeiter haben es weniger nötig, den Job komplett zu wechseln, weil sie in einem Unternehmen immer wieder etwas anderes machen können.
Sie fordern einen "New Deal" gegen die Arbeiterlosigkeit, der neben mehr Zuwanderung und besserer Qualifizierung auch einen deutlich höheren Mindestlohn beinhaltet. Sind die 12 Euro, die in diesem Jahr kommen, nicht genug?
Nein, wir brauchen perspektivisch deutlich mehr. Wir können natürlich nicht morgen den Mindestlohn auf 20 Euro steigern, aber über die nächsten zehn Jahre sollten wir dieses Niveau inflationsbereinigt erreichen. Denn der Mindestlohn ist nicht nur ein Zeichen des Respekts, sondern auch der ultimative Anreiz für Unternehmen, Arbeit aufzuwerten, Tätigkeiten zu automatisieren und zu digitalisieren. Gleichzeitig zwingt er unsere Gesellschaft, Menschen besser auszubilden. Heute werden 20 Prozent der Jugendlichen nicht-ausbildungsfähig aus der Schule entlassen. Überproportional häufig trifft es sozial benachteiligte Menschen und solche mit Migrationshintergrund. Und diese landen dann leider viel zu häufig im Niedriglohnsektor. Diesen Teufelskreis müssen wir durchbrechen. Es muss unser Ziel sein, jedes Kind und jeden Jugendlichen vernünftig auszubilden, unabhängig von seiner Herkunft oder sozialen Hintergrund. Und in guten Jobs zu beschäftigten. So gelingt ein Upgrade auf Arbeit.
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