Im vierten Semester brach sie zusammen. Auf dem Weg zur Klausur wurde Petra Kleiner in der U-Bahn plötzlich ohnmächtig. Als die Biotechnologiestudentin wieder zu sich kam, beugte sich eine Frau über sie, bot ihr Wasser an. "Ich sah sie nur an, konnte nicht reagieren. Ich war leer." "Killer-Semester" nennt Petra Kleiner dieses halbe Jahr: "Da gibt es zwölf Prüfungen, alle zählen zur Bachelor-Endnote." Die 25-Jährige sagt, sie habe aus dem Kollaps gelernt: "Einen Abend pro Woche halte ich mir jetzt frei vom Studium." Uni-Zeit - das war doch mal die große Freiheit: keine Schule mehr, endlich lesen, denken, ausprobieren, was einen wirklich interessiert. Von zu Hause ausziehen, sich jeden Tag neu erfinden. Wilde Diskussionen, durchgefeierte Nächte. Wie leben Studenten heute? Wovon träumen die Menschen, die in ein paar Jahren unsere Gesellschaft prägen werden, wofür engagieren sie sich? Wer ist in der Mehrheit: Karrieristen oder Idealisten?
Jede Minute ist durchgeplant
Angelika Schall muss es wissen, sie ist seit 26 Jahren Sekretärin in der Studentenvertretung der Technischen Universität (TU) München. "Die Zeit des Sich-Ausprobierens ist vorbei", sagt sie, "jetzt ist die Zeit der Anspannung." Generationen von Studenten sind schon in das kleine Büro von Angelika Schall neben der Mensa gekommen, um mit "der Angie" zu quatschen oder sich bei ihr auszuheulen. Wie eine flotte Studentenmutter wirkt die 64- Jährige in ihrem knappen Sonnentop - und wie viele Eltern versteht sie ihre Kinder nicht mehr: "Die tun heute alles für ihre Zukunft - und vergessen dabei das Hier und Jetzt. Sie stehen unter enormem Druck, müssen lernen, jobben, Praktika machen." Die Studentenpartys seien noch immer super, sagt "Angie", aber freiwillige Helfer für die Vorbereitung zu finden werde schwieriger: "Die haben keine Zeit. Jede Minute ist durchgeplant."
Einer Studie des Hochschul-Informations- Systems (HIS) zufolge sieht die Mehrheit der Befragten das Studium als Phase der Entscheidung, in der sie die Weichen für ihr späteres Leben stellen. Beim Einstieg in den Job müssen die Absolventen ja auch was vorweisen, sagt Andreas Pratschke von der Unternehmensberatung Capgemini: "Wenn ich 1000 Bewerbungen vor mir liegen habe, dann achte ich auf Spitzennoten und schnelles Studium." Acht Top-Studenten, vier Frauen und vier Männer, Wirtschafts- und Naturwissenschaftler, hat Pratschke heute eingeladen. Sie dürfen den Arbeitsalltag bei Capgemini kennenlernen und für einen Tag Berater spielen. Die Sonne knallt in die Büros, die Kandidaten schwitzen in ihren langärmeligen Anzug- und Kostümjacken. Bei Capgemini zähle vor allem der "EQ", die "emotionale Intelligenz", sagt Pratschke: "Wir wollen heute rausfinden, wer von Ihnen viel EQ hat."
Spannend und abschreckend zugleich
Die Studenten lächeln verkrampft und sind besonders lieb zueinander. In zwei Teams erarbeiten sie Lösungen, um eine Computerfirma fit zu machen für den "Kostensenkungswettlauf". Pratschke ist zufrieden: "Ein, zwei von denen haben guten business sense." Einigen fehle noch Auslandserfahrung, mahnt er zum Schluss: "Sie müssen später in internationalen Teams performen und mobil sein - zu Hause sind Sie nur am Wochenende." Anschließend, im Hof, diskutieren die Kurzzeitberater noch. "Puh", meint eine junge Frau im schwarzen Hosenanzug, "das war spannend, aber auch ein bisschen abschreckend." Einige nicken. Ein junger Mann mag nicht mobil sein: "Ich bin so verliebt in meine Freundin, ich will nicht weg. Und wenn ich mal Kinder habe, will ich nicht nur der Wochenendpapa sein." Später wird er eine E-Mail schicken: "Bitte zitieren Sie mich in Ihrem Artikel nicht namentlich. Wenn Personalchefs mich googeln, habe ich keine Chance mehr."
Die Studenten von heute, sie sind ängstliche Gewinner. Glückskinder, die ihrem Glück nicht trauen. Selten waren die Chancen von Akademikern auf dem Arbeitsmarkt so gut wie heute. Trotzdem haben viele Studenten Angst, nicht gut genug zu sein. Sie misstrauen den rosigen Prognosen der Arbeitsmarktexperten, weil sie wissen: Es ist ein anderer Aufschwung, der da auf sie wartet, es sind andere Jobs und ein neues riskantes Leben. Den lebenslangen Arbeitsplatz, den ihre Eltern vielleicht noch hatten, den gibt es nicht mehr. Das Abschlusszeugnis ist nicht automatisch die Eintrittskarte für einen gut bezahlten Job mit Aufstiegschancen. Zwar ist das Schlagwort von der "Generation Praktikum" falsch - fast alle Praktikanten bekommen nach ein paar Monaten einen Job, ergab eine Studie des HIS. Richtig ist aber, "dass es beim Berufsstart immer weniger Normalarbeitsverhältnisse gibt", sagt HIS-Forscher Kolja Briedis: "Es überwiegt die befristete Beschäftigung."
Pragmatische Generation träumt nicht vom Traumjob
Um ein bisschen Sicherheit zu bewahren, wählen immer mehr Abiturienten ihr Fach danach aus, welche Chancen es später bietet. Viele trauen sich nicht mehr, vom Traumjob zu träumen, sagt Klaus Hurrelmann, Autor der Shell-Jugendstudie. Diese "pragmatische Generation" setze sich lieber bescheidene Ziele und versuche, mit Fleiß und Leistung zu punkten. Ein Student, der - wieder mal - seinen Namen nicht gedruckt sehen will, sagt: "Um einen rum sind alle so ehrgeizig, da entsteht Gruppendruck. Die machen dort ein Praktikum, hier einen Sprachkurs. Das will, das muss man dann alles auch. Ein Rattenrennen." Würde er Philip Jacobs treffen, er hätte schlaflose Nächte: Der 21-jährige Student der Finanzmathematik absolvierte schon mit 14 sein erstes Praktikum bei einer Bank und wurde jüngstes Mitglied im Börsenclub. Danach folgte in jeden Schulferien ein weiteres Praktikum, außerdem freie Mitarbeit bei Internetfirmen, Stufensprecher im Gymnasium, Einser-Abitur. Mit seinem markanten Kinn sieht er ein bisschen aus wie Barbies Ken, er lächelt viel, er trägt schon jetzt Hemden von Dolce & Gabbana und weiß im zweiten Semester, was er werden will: Investmentbanker. Gerade bereitet er eine große Industriemesse an der Technischen Universität mit vor, "das ist auch gut für die Karriere".
Die Idealisten seien weniger geworden, sagt Jugendforscher Hurrelmann. Die gängige Strategie sei, alles "auf Verwertbarkeit im Lebenslauf abzuklopfen: Gedacht wird in Termini der eigenen Marktgängigkeit". Ein VWL-Student drückt es drastischer aus: "Wir sind doch alle Lebenslauf- Huren", sagt er ironisch-bitter. Justus hält dagegen: "Ein Leben für den Lebenslauf - das kann’s doch nicht gewesen sein." Der Abiturient mit dem sanften Blick und dem blonden Zopf gehört zur Gruppe "Geld oder Leben", die Ende April Schlagzeilen machte: Studenten und Schüler hatten sich vom Dach des Reichstags abgeseilt und den Schriftzug "Dem deutschen Volke" mit einem Banner "Der deutschen Wirtschaft" verhüllt. Sie trugen die Parolen "Du machst keinen Sinn, nur Geld" und "Gegen ein Leben von der Stange" vor sich her und sprangen von der Besuchertribüne in den Plenarsaal. Die Aktion sei Ausdruck eines tiefen Unbehagens vieler junger Menschen, sagt Justus. "Immer mehr haben Sehnsucht nach Utopien, nach einem Sinn." Justus wird demnächst an der englischen Elite-Uni "London School of Economics" studieren. "Klar habe ich Bock zu lernen, darum geht’s doch gar nicht", meint er. Er will aber lieber über den Klimawandel reden als über die Karriere. Sein Sprung in den Bundestag ist für ihn auch ein "Sprung aus dem Lebenslauf ". Justus und seinen Mitdemonstranten droht ein Strafverfahren, deshalb nennt er nur seinen Vornamen.
"Sehr rustikale" Seminararbeiten
So radikale Aktionen liegen den meisten Studenten fern. Petra Kleiner, die sich in der Studentenvertretung engagiert, sagt, es werde immer schwieriger, Demonstrationen auf die Beine zu stellen. "Dann kommt wieder keiner, das ist schon enttäuschend", sagt sie. Florian Mayr hat gegen Studiengebühren demonstriert. Der 26-jährige Soziologiestudent sitzt zwischen kreischenden Italienern und Leberkäse essenden Polen auf der Terrasse der Germanisten-Cafeteria. Heute ist Erasmus-Party, deutsche und ausländische Sudenten feiern gemeinsam. Auch Florian war mit einem "Erasmus"-Stipendium im Ausland. Für ihn und seine Familie sei sein Werdegang etwas Besonderes, sagt Florian. Sein Vater ist Drechsler, die Mutter Hausfrau. "An der Uni sind doch sonst fast nur Akademikerkinder." Seine Seminararbeiten lesen sich "sehr rustikal", sagt Florian, vor allem im Vergleich zu denen seiner Freundin Dinah, einer Lehrerstochter. Florians Geschwister haben nicht studiert, sondern eine Lehre gemacht: "Ich kenne viele, die wollen keinen Kredit aufnehmen und lassen das Studium lieber sein." Trotzdem sieht Florian auch die Vorteile der neuen Uni-Regeln: "Als ich anfing zu studieren, saßen wir in den Einführungsveranstaltungen auf dem Boden, manchmal kam man gar nicht in den Raum rein - ein Horror. Soziologie konnte damals jeder machen." Neuerdings müssen Abiturienten in einem Auswahlgespräch begründen, weshalb sie Soziologie studieren wollen. Florian sagt, durch Gebühren und Eingangsprüfungen gebe es weniger "Leute, die einfach mal so studieren".
Alle großen Uni-Reformen zielen darauf ab, dass Studenten schneller ins Berufsleben starten. Die Frage: "Welche Vorlesung will ich heute hören - oder soll ich erst mal ausschlafen?" stellt sich einem Bachelor- Kandidaten nicht mehr. "Bei uns waren die Vorlesungen der ersten vier Semester komplett vorgeschrieben, wie in der Schule", sagt Biotechnologiestudentin Petra Kleiner. Statt eines vier- bis fünfjährigen Diplom- oder Magister-Studiengangs machen Abiturienten nun eine dreijährige Ausbildung zum Bachelor. Wer gute Noten hat und tiefer in die Wissenschaft eintauchen möchte, kann danach noch einen Master-Studiengang dranhängen. Neu ist auch, dass von Anfang an jedes Prüfungsergebnis in die Abschlussnote mit eingeht - Patzer kann man sich nicht mehr leisten. Der Bummelstudent stirbt aus.
Mit wenig Aufwand viel erreichen
Dieter Frey, Professor für Sozial- und- Wirtschaftspsychologie, sagt, die meisten seiner Studenten arbeiteten nach dem "Minimum-Prinzip: Mit wenig Aufwand möglichst schnell möglichst viel erreichen". Seine Dienstagsvorlesung beginnt, er geht zum Rednerpult des Audimax und überhäuft seine Studenten mit psychologischen Modellen und Fremdwörtern, redet über Parallelen in Wirtschaft und Politik. "Schrempp – wer?", flüstert einer seiner Nachbarin zu. Die Luft wird schlechter, einige Zuhörer schreiben eifrig mit, andere sinken in sich zusammen. Eine typische Vorlesung. "Die sitzen still da und konsumieren", sagt Frey. "Ich kann machen, was ich will, die regen sich einfach nicht auf." Frey war 1968 Student und permanent aufgeregt: "Es gab nur Gut oder Schlecht, Schwarz oder Weiß." Die Wischiwaschi-Haltung der Jungen kommt auch daher, dass sie es besser wissen: dass es die einfachen Wahrheiten eben nicht mehr gibt.
Der Soziologieprofessor Armin Nassehi sagt: "Wir leben nicht mehr im Zeitalter der Kritik. Die Jungen sind heute obercooler, abgeklärter." Nassehi erlebt, dass die Studenten immer weniger lesen, er hört das sogar von seinen Kollegen aus der Literaturwissenschaft. Andere Professoren regen sich auf über Studenten, die "Marks" statt "Marx" und "Hops" statt "Hobbes" schreiben. Nassehi hält nichts von Studentenbeschimpfung, er lehrt jetzt einfach anders. Er übt das Interpretieren von Texten, erzählt lebendige Geschichten. Die Studenten seien nicht doof, sondern "unglaublich schlau, sie leben nur in einer anderen Welt als ich", sagt Nassehi. Sie seien geprägt vom Internet, von der Macht der Bilder in Film und Fernsehen - "und nicht mehr vom widerspenstigen Buch".
"Examinierte Fachidiotin"
Auf dem Notenständer liegt eine Beethovensonate, auf dem Boden die "Süddeutsche Zeitung", die Regale sind voller Bücher. "Ich kenne sonst niemanden, der eine Zeitung abonniert hat", sagt Laura Holzner. Die 23-jährige Medizinstudentin spielt Geige im Orchester, engagiert sich politisch bei den Jusos. Auf keinen Fall will sie examinierte Fachidiotin werden. Laura stemmt sich gegen den Zeitgeist des Schneller, Weiter, Besser: "Gerade weil wir so unter Druck sind, drücke ich öfter die Stopptaste. Es ist doch pervers, dass ich schon ein schlechtes Gewissen habe, wenn ich ein Wochenende auf Orchesterreise fahre." Ihr Freund Flo hat in der WG-Küche Omas Eierkocher angeworfen und die Blümchenteller rausgestellt. Beim Frühstück besprechen die beiden ihre Indienreise: Im Oktober soll es losgehen, sie wollen auf dem Land bei einem Projekt gegen Kindersterblichkeit helfen. In München arbeiten Laura und Flo regelmäßig in einem Hospiz, begleiten Kranke und Menschen mit "terminalen Krankheiten", so der Medizinersprech für Sterbende. Laura hat ihre Großeltern im Kreis der Familie sterben sehen. Sie will jetzt im Hospiz da sein, "wenn einer stöhnt und schreit und die Angehörigen eine Pause brauchen".
Etwa zwei Drittel der Studenten engagieren sich nebenher, etwa bei der Studentenvertretung oder für den Sportverein - vor allem aber für sich selbst. Ihre Motive sind weniger Idealismus und Nächstenliebe als die Hoffnung, dadurch ihren Lebenslauf aufzupeppen, ergab eine HIS-Studie. In einem Hospiz wird man diese unermüdlichen Lebenslauf-Bastler nicht finden, aber bei Amnesty oder Greenpeace durchaus, meint der 34-jährige Pädagoge Michael Schall, der sich seit seiner Studienzeit bei Amnesty engagiert. "Solche Leute sind die Pest. Seit die Personaler die Soft Skills entdeckt haben, schneien sie rein." Man erkenne sie daran, "dass sie kurz vor Studienende auftauchen, wenig tun und für alles eine Bescheinigung wollen". Schall versteht nicht, "warum die sich ohne Spaß und nur für die Karriere für politisch Verfolgte engagieren". Er selbst ist damals noch zur Amnesty-Ortsgruppe gegangen, "weil es dort so viele hübsche Mädchen gibt".