Am Montag sind es die Gaspreise, die Marcel Fratzscher umtreiben. Die sind so stark gefallen, dass man fragen müsse, ob das Land all die neuen Terminals für Flüssiggas wirklich brauche, die gerade an Nord- und Ostsee an die Deiche geklotzt werden – es ist eine kurze Meldung auf dem Karrierenetzwerk Linkedin an seine 90.000 Follower. Fratzscher ist hier eine "Top Voice".
Am Dienstag beschäftigen ihn die fehlenden Investitionen: Verteidigung, Infrastruktur, Schulen – alles brauche mehr Geld, schreibt Fratzscher. Wieder auf Linkedin, und diesmal auch auf dem Kurznachrichtendienst X, vormals Twitter. Auch hier hat Fratzscher viele Follower, gut 72.000. Am Mittwoch, neues Thema, der Jahrestag des Kriegsbeginns in der Ukraine: Fratzscher schätzt die wirtschaftlichen Kosten für Deutschland auf 200 Milliarden Euro, ganz grob – er hat dazu ein Interview gegeben in der "Rheinischen Post". Und weil das nicht jeder mitbekommen haben dürfte: parallele Nachricht auf Linkedin und X. Am Donnerstag noch ein Interview, diesmal im "Münchner Merkur", zu den Flüchtlingen, die Deutschland gut gebrauchen könne. Und am Freitag seine wöchentliche Kolumne bei "Zeit Online": der Segen des Sozialstaats, eine große Verteidigung gegen das Diktat des Sparens.
Eine Woche von Marcel Fratzscher, zumindest in den Medien: fast jeden Tag Linked-in; jeden Tag X, dazu alle großen Verlage und Plattformen, wenn nicht die "Zeit", dann Welt.de, "Spiegel Online", Tagesschau.de und gern auch noch abends auf Phoenix oder in ZDF und ARD bei Lanz, Maischberger oder Illner: Deutschlands bekanntester Ökonom, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), sendet auf allen Kanälen, er ist der Mann, der den Deutschen die Wirtschaft erklärt. Mit Interviews, Kommentaren, Kolumnen, Gastbeiträgen – Fratzscher ist immer und überall, zu jedem Thema. Stets ruhig und freundlich, sachlich, klar und auf den Punkt. Ein Influencer in Sachen Wirtschaft mit Hochschulprofessur und Forschungsinstitut. Besser geht es nicht.
Fratzscher ist ein Phänomen, sogar in doppelter Hinsicht: Seine Expertise ist gefragt, er steuert mit dem DIW in Berlin nicht nur das größte Wirtschaftsforschungsinstitut des Landes, er ist auch qua Amt und Dienstsitz ganz nah an den Mächtigen. Er leitet Kommissionen, Beiräte und berät Minister.
Und zugleich ist der heute 53-Jährige auch nach elf Jahren im Berliner Wirtschafts- und Medienzirkus ein Rätsel geblieben: Je mehr er sendet, desto mehr entzündet sich auch Kritik an ihm, Widerspruch und Frustration. Nicht nur beim breiten Publikum, in den Kommentarlisten auf X und Linkedin, sondern mehr noch bei jenen, mit denen Fratzscher tagtäglich zusammenarbeitet: Mitarbeiter im Institut, bekannte Professorenkollegen, Abgeordnete, auch Minister. "Der sogenannte Ökonom", nennt ihn spöttisch ein wichtiger Abgeordneter der Ampelkoalition, einen "Arschkriecher" ein renommierter Kollege – Fratzscher ruiniere den Ruf der Wirtschaftswissenschaften durch Gefälligkeitsratschläge, behauptet er. Ausgerechnet seine wichtigste Klientel bringt Fratzscher so sehr auf die Palme wie kein zweiter Ökonom in Deutschland.