Schlechter kann der Ruf des weltumspannenden Konzerns mit der gelben Muschel kaum noch werden. "Lügen, Verschleierung, Geldsäcke und ein Ölgigant in der Krise", titelte der "Independent" und brachte damit die Lage der Royal Dutch/Shell auf den Punkt. Nicht genug damit, dass das britisch-niederländische Unternehmen zum Wochenbeginn seine Ölreserven und damit auch die Gewinne seit Januar bereits zum dritten Mal nach unten bewerten musste. Aus einem internen Untersuchungsbericht geht nun hervor, dass die falschen Zahlen nicht etwa nur ein Rechenfehler waren, sondern dass die ehemalige Führungsspitze ihre Aktionäre und die Börsen augenscheinlich wissentlich in die Irre führte.
Strafrechtliche Kosequenzen
Anfang März mussten Konzernchef Sir Philip Watts und Walter van de Vijver, verantwortlich für die Erkundung von Ölfeldern und die Produktion, ihren Hut nehmen. Nun droht den beiden Gehaltsmillionären aber womöglich auch strafrechtliches Ungemach, weil sie die Lage besser darstellten als es dem weltweit drittgrößten Ölkonzern wirklich ging. In den USA läuft bereits eine Sammelklage gegen Shell wegen der "schockierenden und beispiellosen" Übertreibung der Öl- und Gasreserven. Und nach Informationen der "Financial Times" vom Donnerstag beschäftigen sich jetzt auch die amerikanischen Kriminalbehörden mit dem Skandal.
Der in London von der amerikanischen Anwaltsfirma Davis Polk & Wardwell im Auftrag von Shell in Auszügen vorgelegte, mehr als 400 Seiten umfassende Untersuchungsbericht enthält brisante Informationen, die die Schlinge um den Hals des ehemals hochangesehenen Geschäftsmannes Sir Philip enger werden lassen. Denn Van de Vijver hatte seinen Chef bereits mehr als zwei Jahre lang auf die sich verschärfende Krise bei den Ölvorräten hingewiesen, wie E-Mails zu entnehmen ist. Doch der Big Boss bestand den Angaben zufolge auf seinen unwahren Rekordzahlen.
Der Big Boss befahl die Lügen
"Es macht mich krank und müde, über das Ausmaß unserer Reserven zu lügen", hieß es nach Zeitungsangaben in einer der E-Mails des Produktionschefs. Doch in einer seiner Antworten verlangte Sir Philip, "alles daranzusetzen" um sicherzustellen, dass die Shell-Reserven so groß wie möglich aussehen. Van de Vijver hielt den Mund und tat, wie ihm befohlen.
Nach dem Hinauswurf der beiden wurden zahlreiche Stellen im Management des Ölriesen neu besetzt, zu guter Letzt verlor auch Finanzchefin Judy Boynton ihren Job. Doch ob dies reicht, damit der Konzern wieder auf die Beine kommt, ist ungewiss. "Hinterlistige Shell braucht zehn Jahre für den Wiederaufbau ihres Erkundungsgeschäfts", schrieb die "Times" unter Berufung auf einen Finanzspezialisten.
Mangel an interner Kontrolle
Kennern der Szene gehen die personellen Neubesetzungen im Konzern nicht weit genug. Einen Mangel an interner Kontrolle durch die antiquierte Aufteilung in zwei mehr oder weniger unabhängige Unternehmen sehen die Spezialisten. Da ist die niederländische Koninklijke Nederlandse Petroleum Maatschappij (Royal Dutch) mit Sitz in Den Haag, der 60 Prozent gehören, und die Shell Transport & Trading Company mit ihrem Londoner Hauptquartier und 40 Prozent der Anteile.
Der Kommentator der "Financial Times" mahnte wie viele andere Stimmen deshalb für die Zukunft von Shell eine bessere Überwachung des Managements durch einen Zusammenschluss an: "Vielleicht kann dies effektiver als bisher nur geschehen, in dem die Kräfte durch eine Fusion gebündelt werden, was zu einem transparenteren Unternehmen führen würde. Das wäre ein gutes Resultat der Shell-Krise."