Im unterirdischen Hochsicherheitstrakt in Stadelheim wird seit Donnerstag Geschichte fortgeschrieben. Nach zweieinhalb Jahren und mit 45-minütiger Verspätung müssen sich dort unten vier Männer vor dem Münchener Landgericht verantworten. In der Mitte der Anklagebank sitzt Markus Braun, ehemaliger CEO des Finanzdienstleistungsunternehmens Wirecard. Als Hauptangeklagtem werden ihm gewerbsmäßiger Bandenbetrug, Untreue, Marktmanipulation und unrichtige Darstellung vorgeworfen. Er soll zusammen mit drei weiteren Kollegen aus der Chefetage und einem Vorstandsanwärter 3,1 Millionen Euro ergaunert haben.
Braun weist die Anschuldigungen in einer Stellungnahme zurück, sieht sich selbst als Opfer krimineller und intriganter Machenschaften seines eigenen Unternehmens. Wer am Ende verantwortlich ist, soll in dem Gerichtsprozess geklärt werden – einem langwierigen Verfahren. 100 Tage lang soll bis ins Jahr 2024 hinein verhandelt werden. Allein die Verlesung des 89-seitigen Anklagesatzes soll fünf Stunden dauern.
Dabei ist schon jetzt klar: Der Wirecard-Skandal zählt zu den größten Betrugsfällen in der Geschichte Deutschlands seit 1945. Zumindest wäre es die höchste Summe, die seitdem erbeutet wurde. Mit Scheingeschäften sollen die Chefs Kredite in Milliardenhöhe erschwindelt haben. Für die Staatsanwaltschaft ist das Motiv eindeutig: Der Aufstieg des Konzerns soll bewusst inszeniert worden sein, um Wirecard erfolgreich erscheinen zu lassen. Zwei Mitangeklagte sollen dafür verantwortlich gewesen sein, Umsätze und Erlöse zu erfinden, um die Verluste zu kaschieren.
Doch auch die Keyplayer sind einzigartig: Noch nie wurde der Vorstandschef eines ehemaligen DAX-Konzerns verdächtigt, mit weiteren Führungskräften gemeinsam eine Betrügerbande gebildet zu haben. Das Ziel: sich selbst zu bereichern. So kassierte Braun nicht nur ein Millionengehalt: Für den Wirecard-Aktionär kamen von 2015 bis 2018 an Dividenden in Höhe von 5,5 Millionen Euro hinzu.
Wirecard: Aufstieg und Fall eines Schmuddelkindes
1990 gegründet, galt Wirecard eigentlich als deutsche Hoffnung für die digitale Finanzindustrie. Zu den ersten Kunden gehörten vor allem Casinos und Pornoseiten, weil diese früh auf den Onlinehandel setzten. Nach außen hin präsentierte der Konzern ein spektakuläres Wachstum. Doch laut Staatsanwaltschaft München schrieb Wirecard spätestens seit 2015 Verluste. 2019 berichtete die "Financial Times" schließlich von Bilanzfälschungen. Wirecard wies die Vorwürfe zurück, wurde aber von der Finanzaufsicht Bafin geprüft und ein Jahr später wegen des Verdachts auf Marktmanipulation angezeigt. Bei einer Wirtschaftsprüfung kam heraus, dass 1,9 Milliarden Euro fehlen. CEO Braun trat zurück, wurde vorübergehend festgenommen. Das Unternehmen musste Insolvenz anmelden, das Geld wird bis heute vermisst.
Die Grundlage der Anklageschrift bildet eine Überprüfung von 340 Firmen, 450 Menschen und über 1100 Bankverbindungen. Neben Braun sitzen zwei weitere Ex-Vorstände in Untersuchungshaft. Oliver Bellenhaus war Geschäftsführer der Wirecard-Tochter in Dubai. Er tritt als Kronzeuge in dem Prozess auf. Neben ihm sitzt der frühere Chefbuchhalter Stefan von Effra. Die Staatsanwaltschaft vermutet, dass er an den frisierten Wirecard-Bilanzen beteiligt war. Er wird vermutlich die Aussage verweigern.
Nur einer fehlt: Jan Marsalek. Der ehemalige Vorstand des Unternehmens flüchtete, bevor er hinter Gittern landen konnte. Die Behörden gehen davon aus, dass er sich in Russland aufhält.
Quellen: "FAZ", "Wirtschaftswoche", "Managermagazin", "Redaktionsnetzwerk Deutschland", mit Material von DPA und AFP