Hape Kerkeling "Ich musste von heute auf morgen erwachsen werden"

Es ist das Drama seines Lebens: Der Komiker und Entertainer Hape Kerkeling spricht im stern-Interview erstmals über den frühen Freitod seiner Mutter und seine unbekannten Seiten.

Ein weites Tal im Herzen Italiens. Eine Terrasse aus alten Steinen. Wir sitzen in einer Pizzeria mit Fünf-Sterne-Blick. So weit das Auge reicht Olivenhaine, Felder mit verblühten Sonnenblumen, Wälder. Hier lebt Hape Kerkeling, bald 50 Jahre alt, wenn er mal nicht in Berlin ist. Und hier will er davon erzählen, was ihn in mehr als 30 Jahren im Rampenlicht angetrieben hat. Darüber haben wir in unserer Zusammenarbeit, auf den vielen Reisen, nie gesprochen.*

Irgendwo am Horizont ein mächtiger Dom. Ganz leise hört man seinen Glockenschlag. Der Sommer ist noch einmal zurückgekehrt an diesem Tag, mit Hitze und dem Gesang der Zikaden. Hape liebt und genießt diese Landschaft sichtlich – ihre Weite, ihre Melancholie, bei gleichzeitiger Fröhlichkeit und Entspanntheit ihrer Bewohner. Nichts von dem, was er in perfektem Italienisch bestellt, wird jemals an unseren etwas entlegenen Tisch gebracht werden. Andere würden sich jetzt aufregen. Aber Hape lacht sein ansteckendes Lachen.

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Der Journalist und Fernsehproduzent Gero von Boehm hat mit Hape Kerkeling für die ZDF-Reihe "Unterwegs in der Weltgeschichte" ausgedehnte Reisen unternommen. In Italien fanden sie nun erstmals Zeit, um über Privates zu sprechen.

War Lachen für dich eigentlich immer schon so wichtig?
Seit ich denken kann. Das ist immer so geblieben. Humor ist die einzige Möglichkeit, eine gesunde Distanz zu dieser merkwürdigen Welt mit all ihrem Hype um nichtige Dinge zu bewahren. Er zeigt uns die andere Seite. Und selbst ernste Dinge lassen sich so besser ertragen.

Aber Distanz, wie du es nennst, suchst du doch auch in dieser Landschaft. Man könnte fast den Eindruck haben, dass du dich hier gern versteckst.


Verstecken ist vielleicht falsch ausgedrückt. Ich liebe es ruhig und beschaulich. Aber unter berechtigtem Verfolgungswahn leide ich durchaus. Der ist in Berlin, wo ich sonst lebe, nicht unbegründet. Da werde ich mitunter regelrecht verfolgt – von sympathisch aufgekratzten Zeitgenossen mit gezückten Handykameras. Meistens allerdings entpuppen sich diese besonders heiter gestimmten Menschen als gutmütige schwäbische Touristen. Von übereifrigen Boulevardjournalisten einmal abgesehen. Aber das gehört zum Leben eines B-Promis dazu, also will ich mich nicht über diese eher lustigen und manchmal inspirierenden Episoden beklagen. Nach spätestens drei Tagen hier in Italien klingt der Verfolgungswahn jedenfalls ab.

Also ein zweites Leben in Italien – als Ersatz für das erste?


Ein Ersatzleben? Das klingt ein bisschen hart, aber: Ja! In diesem herrlichen Land mit seinen rebellischen Menschen, seiner zauberhaften Landschaft, seinem fantastischen Essen kann ich tatsächlich ein anderes Leben führen. Italien ist für mich eine unbelastete Zweitheimat.

Seit du 17 bist, stehst du auf deutschen Bühnen und vor Kameras. Hier hast du schon allein in der anderen Sprache eine zweite Heimat gefunden ...


Das spielt sicher eine Rolle, diese Form von Distanz zum Medienzirkus. Aber es hängt auch mit dem frühen Bruch in meiner Biografie zusammen. Nichts erinnert mich hier in Italien an die Erlebnisse meiner Kindheit. An den Freitod meiner Mutter.

Wie alt warst du da?


Ich war acht und liebte meine Mutter sehr. Sie war humorvoll, stark und selbstbewusst. Zwar immer auch ein bisschen still, aber eben heiter und optimistisch. Bis sich das schlagartig änderte.

Was war der Grund ?

"Man konnte zusehen, wie Mutter abbaute"

Als meine Großmutter Änne von heute auf morgen krank wurde und dann unerwartet schnell verstarb, konnte man zusehen, wie meine Mutter abbaute. Es kam eine chronische Kiefer- und Nebenhöhlenentzündung dazu, die nicht mehr abklingen wollte. Kein Antibiotikum half. Sie musste sich einer komplizierten Operation unterziehen, und bei diesem Eingriff kam es zu einem ziemlich schwerwiegenden ärztlichen Kunstfehler. Sie hat durch die Operation ihren Geschmacks- und Geruchssinn verloren. Das hat meine Mutter ihrem Ende förmlich entgegengetrieben. Unweigerlich. Sie war schwer depressiv, und das Leben wurde im wahrsten Sinne des Wortes sinnlos für sie. Sie konnte nichts mehr schmecken, hatte keinen Appetit mehr, und alles drehte sich um diese Geschmacks- und Geruchslosigkeit. Es hat knapp ein Jahr gedauert, bis sie sich dazu entschlossen hat, sich das Leben zu nehmen. Im Rückblick kann ich das heute nachvollziehen und sogar verstehen.

Hast du versucht, sie aufzuheitern, als sie depressiv wurde?


Na ja, ich habe genau das gemacht, was sie eben gemacht hat, wenn es mir mal nicht so gut ging. Da war sie es, die immer versucht hat, mich zum Lachen zu bringen, und das hat immer funktioniert. Dann haben wir gezwungenermaßen die Rollen eben getauscht.

Deine Mutter wurde zu deiner Tochter?


So ähnlich war das wohl. Ich habe sie an die Hand genommen, und meine Shows direkt vor ihrer Nase veranstaltet – immer in der Hoffnung, dass ich sie aus ihrer tie- fen Trauer herausreiße, was mir manchmal auch tatsächlich gelungen ist. Ich habe ihr beispielsweise in einem geblümten Nachthemd Szenen aus Grethe-Weiser-Filmen vorgespielt. Theo Lingen und Jürgen von Manger habe ich auch imitiert – und sie lachte tatsächlich. Dann ging es wieder für einige Tage relativ normal weiter, bis sie sich erneut in diesem tiefen dunklen Loch ohne Ausweg wiederfand. Die Familie hat alles versucht. Aber meine Mutter hat sich nach der misslungenen Operation schlicht geweigert, ärztliche Hilfe anzunehmen. Sie hatte überhaupt kein Vertrauen mehr in die ärztliche Kunst.

Du warst in der Nacht, in der es passierte, als Einziger bei deiner Mutter.


Das war das Schrecklichste, was mir in meinem Leben bis dato widerfahren ist. Das war traumatisch. Doch darüber kann und will ich in einem Interview nicht sprechen.

In deinem Buch schilderst du aber diese Nacht.


Ja, das ist etwas anderes. Es war hilfreich für mich, in dem Buch darüber zu schreiben. Erlebtes aufzuschreiben lässt es erst einmal neu aufflammen, dann aber erlischt es endgültig und wird zum ruhenden Teil der eigenen Lebenschronik.

Welche Rolle spielte dein Vater für dich?


In dieser Zeit haben wir uns gegenseitig gestützt und tun es bis heute. Aber den stärkeren Einfluss auf mich hatten immer die Frauen in der Familie. Meine Mutter, meine beiden Großmütter, meine Tanten. Die haben mich sehr geprägt. Die Männer in meiner Familie waren durch die Nazi-Herrschaft und den Krieg deutlich traumatisierter als die Frauen.

Kann man das, was man als Kind erleben musste, je verarbeiten?


Es gibt unbestritten Kinder, die haben Schlimmeres erlebt als ich, und sie müssen auch damit weiterleben. Kinder besitzen in der Regel ungeheure Reserven der Selbstheilung. Das hat die Natur klug und weise eingerichtet.

Das, was mir passiert ist, habe ich in mein Leben zu integrieren versucht. Das, was an dieser schrecklichen Lernerfahrung für mich hilfreich war, habe ich mitgenommen in mein späteres Leben. Vermutlich ist meine heutige Lebensführung auch ein Resultat aus dem Freitod meiner Mutter. Ihr Tod schien mir damals so sinnlos, so grausam, so verfrüht. Das hat mich dazu gebracht, nach meinen Möglichkeiten und meinem Verständnis, das Beste aus meinem Leben machen zu wollen.

Wenn du sagst, ins Leben integrieren – kann es sein, dass es einen abhärtet?
Ich musste von heute auf morgen erwachsen werden, ohne aber mit den geistigen Fähigkeiten eines Erwachsenen ausgestattet zu sein. Die Gefühlsebene wurde schlagartig erwachsen, um mit all dem Erlebten umgehen zu können, gleichzeitig kam der Verstand aber nicht mit. Das hat viel länger gedauert. Aber ich ahnte als Achtjähriger nach dem Erlebten: Es kann jetzt nur noch besser werden. Das hat mich alle beruflichen und auch privaten Niederlagen leichter wegstecken lassen. Welche Bedeutung hat da eine Sendung, die man in den Sand setzt, oder eine miese Kritik?

Hängt dein stark ausgeprägter Ehrgeiz damit zusammen?


Bin ich wirklich so ehrgeizig? Vielleicht. Für mich war das Schlimmste nach dem Tod meiner Mutter die Frage: Was hat sie in dieser Welt hinterlassen? Wo sind ihre nachfühlbaren oder nachvollziehbaren Spuren? Ich konnte als Kind nichts erkennen. Da habe ich mir vorgenommen, in meinem Leben klare, eindeutige Spuren zu hinterlassen. Ich wollte es meiner Umwelt nicht so leicht machen, mich so schnell zu vergessen.

Dein Mittel, um Spuren zu hinterlassen, ist vor allem der Humor. Hat der sich verändert nach dem Tod deiner Mutter?


Das wird mir alles heute erst klar. Ich war leider mit meiner komischen Mission gescheitert, die ich mir unfreiwillig auferlegt hatte, nämlich meine Mutter zu retten. Also habe ich mir vorgenommen, das passiert mir nicht wieder. Wenn ich noch mal humoristisch ansetze, werde ich nicht scheitern, sondern es wird mir gelingen, Menschen, denen es nicht so gut geht, zum Lachen zu bringen. Das werde ich hinbekommen. So habe ich wirklich versucht, meinen Humor relativ früh zu professionalisieren ...

... und im zarten Alter von 14 Jahren Rundfunk- und Fernsehsender mit Kassetten zu bombardieren, die dein Können beweisen sollten.


Ich wollte unbedingt ins Fernsehen. Die Fernsehshows der frühen 70er Jahre mit Peter Frankenfeld, Hans Rosenthal, Peter Alexander und Rudi Carrell – die haben mich angestachelt. Ich war der festen Überzeugung, dass auch ich eines Tages solche Shows präsentieren könnte, wie eben meine Vorbilder. Im Rückblick ein unglaubliches Selbstbewusstsein und eine rührende Naivität. Aber es war mein festes Ziel. Sogar das DDR-Fernsehen habe ich angeschrieben, das österreichische Fernsehen, das Schweizer Fernsehen und meine Kassetten mit Sketchen und Dialogen überall hingeschickt, bis tatsächlich eine erste Rückmeldung vom Südwestfunk kam. Ich wurde zum "Talentschuppen“ eingeladen, aber dann wieder nach Hause geschickt – es hieß, ich sei zu jung. Ein Jahr später hatte ich meinen ersten Auftritt dort. Ich imitierte in wilden Fantasiesprachen die Auszählung beim "Eurovision Song Contest“.

Du hast damals schon Figuren erfunden. Wie bist du auf sie gekommen?


Die Inspiration dafür liegt noch weiter zurück und an einem Ort, wo ich als Kind ständig sein durfte: im Krämerladen meiner Oma Änne. Im Kindergarten war ich nicht, stattdessen verbrachte ich vom ersten bis zum sechsten Lebensjahr jeden Tag in diesem schrillen Laden. Da kamen beispielsweise Frau Rädeker, Herr Ponnewasch oder Frau Edelmund hereingeschneit, und es wurde abgelästert, ausgeschmückt und ausschweifend palavert. Das alles saugte ich als kleiner Junge förmlich in mich auf. So sind, glaube ich, auch meine ersten Figuren entstanden ...

... mitten in Herten-Scherlebeck bei Recklinghausen, wo deine Oma stadtbekannt war. Man spricht heute noch von ihr.


Ja, irgendwie hatte sie einen positiven Knall. Sie besaß eine Kutsche, vor die wurden jeden Sonntag ihre Pferde gespannt, und wir sind in dieser Kutsche durch die Stadt gefahren. Das war Anfang der 70er-Jahre im Ruhrgebiet ein Bild mit großem Seltenheitswert. Oma hat das genossen, wenn die Leute ihr zugewinkt haben. Sie hat wie eine alte Königin mit einem weißen Spitzentaschentuch zurückgewinkt und mich ermuntert: "Hans-Peter, komm, wink du auch mal. Die Leute freuen sich darüber!"

Später bist du als Beatrix der Niederlande winkend beim Bundespräsidenten vorgefahren. Was musstest du da überwinden? Solche Spiele sind von da an zu deinem Markenzeichen geworden.

"Seitdem ich denken kann, denke ich schwul"

Ich habe versucht, gesellschaftlich gesteckte, einvernehmliche und gewissermaßen unsichtbare Grenzen zu überschreiten. Ich wollte der Norm ein Schnippchen schlagen. Ich hatte kein so großes Problem damit, diese Grenzen zu überschreiten, denn in meinen Augen wirkten die Hürden nicht so hoch wie vielleicht in den Augen anderer. Ich wollte Konformität, Gepflogenheiten und gesellschaftlich Eingeübtes infrage stellen. Sätze wie „Darüber spricht man nicht“, "Das tut man nicht“ wollte ich mit einem Fragezeichen versehen. Das allein reichte aus, um als rebellisch zu gelten.

Heute leben wir in einer Zeit, in der die Konformität noch stärker geworden ist. Alle haben Angst, etwas falsch zu machen. Das führt dazu, dass der Mainstream regiert. Juckt es dich manchmal, wieder Grenzen zu überschreiten? Radikaler zu werden?

Privat mache ich das nach wie vor. Das liegt in meiner Natur, da kann ich gar nicht aus meiner Haut. Ich habe gegen die vorherrschende Meinung öffentlich gesagt, wie extrem unangemessen ich die Art und Weise fand, wie man den Bundespräsidenten Christian Wulff aus dem Amt gejagt hat. Das hat damals niemand so richtig verstanden, und damit habe ich mir keine Freunde gemacht. Wenn ich mich richtig erinnere, wurde er doch von allen Vorwürfen freigesprochen. Auch beruflich versuche ich, gegen das Konforme anzugehen. Horst Schlämmer zum Beispiel überschreitet andauernd Grenzen – und seien es nur die des angeblich guten Geschmacks.

In deinem neuen Buch steht der Satz: "Seitdem ich denken kann,denke ich schwul.“ Kannst du diese Art zu denken beschreiben?


Dazu müsste ich wissen, wie ein sogenannter Heterosexueller – übrigens genauso ein bescheuertes Wort wie Homosexueller – denkt. Schwule verstehen vermutlich, was ich damit meine. Im Vergleich zu vielen meiner heterosexuellen Mitmenschen denke ich rebellischer, mutiger, aber auch viel vorsichtiger. Besser kann ich das nicht beschreiben. Eine "Schaffe, schaffe, Häusle baue!"-Mentalität ist mir jedenfalls nicht zu eigen. Haus, Frau, Hund und zwei Kinder!? Das war nie mein Lebensentwurf. Nicht, dass er schlecht wäre, aber es ist nicht meiner.

Wie hat deine Familie, die sehr katholisch geprägt ist, das eigentlich aufgenommen?


Erst wenn in Deutschland niemand mehr diese Frage stellt, sind wir da angekommen, wo wir gesellschaftlich landen sollten. Für meine Familie war das nie ein Problem. Ich hatte allerdings eine Großtante, die sehr wichtig für mich war. Meine Klostertante Lisbeth, Schwester Mafaldis. Als ich geoutet wurde durch Rosa von Praunheim, war mein erster Gedanke: "Oje, was denkt jetzt meine Tante im Kloster? Was passiert jetzt? Die ist Nonne und findet das sicher gar nicht lustig. Da gibt es vermutlich ein Donnerwetter.“

Sie rief mich prompt an und sagte: "Ich möchte dich in den nächsten 14 Tagen dringend sprechen, besuch mich doch bitte mal im Kloster.“ Ziemlich streng klang sie am Telefon. Ich fuhr zu ihr ins Kloster, und wir saßen uns bei Kaffee und Obstkuchen gegenüber. Sie sagte: "Erklär mir das mal, was heißt das, schwul sein. Ich weiß nicht, was das ist.“ Ich habe versucht, ihr zu erklären, was das bedeutet und wie ich so fühle und wie ich denke, und dann guckte sie mich an und sagte: "Ja, so warst du schon als kleiner Junge. Eigentlich habe ich mir das schon gedacht, als du klein warst, da konnte man das bereits sehen und merken.“

Wollte sie dich bekehren?


Überhaupt nicht. Sie ist sehr locker damit umgegangen. Es kam raus, dass sie mich nur ins Kloster bestellt hatte, weil sie sich maßlos über ihre Schwestern aufgeregt hatte, die nichts Besseres zu tun hatten, als ihr die Schlagzeilen der "Bild" ins Kloster zu schicken. Sie sagte: "Stell dir das mal vor! Das hätte ich gar nicht wissen müssen. Da hättest du deine Ruhe gehabt.“

Stimmst du zu, dass dir Freiheit das Wichtigste im Leben ist?


Der Begriff der Freiheit ist besonders bedeutend für mich, weil ich bei meinen Großeltern väterlicherseits aufgewachsen bin. Ich war acht, als sie zu uns zogen. Sie waren jenseits der 70, und mein Großvater war während der gesamten Nazizeit zwölf Jahre lang in den unterschiedlichsten Zuchthäusern inhaftiert gewesen und dann am Schluss, es waren die letzten drei oder vier Kriegsjahre, im Konzentrationslager Buchenwald. Ich habe erlebt, was Unfreiheit, Knechtschaft und Folter aus einem starken Menschen, der er vermutlich mal war, machen können. Dementsprechend hatte ich immer, resultierend wahrscheinlich aus diesem engen Zusammenleben mit meinem Großvater, ein starkes Bedürfnis nach Freiheit, was von ihm auch unterstützt wurde. Die Freiheit wurde in der Familie als ein hohes Gut angesehen, vielleicht auch idealisiert.

Die Branche, in der du arbeitest, neigt dazu, einem Freiheit zu nehmen. Man gehört plötzlich den anderen, dem Publikum, dem Betrieb und der Arithmetik der Einschaltquoten.


Ich habe von Anfang an, seit 1984, das sind nun 30 Jahre, die ich diesen Unterhaltungsjob mache, mir immer meine Freiheiten genommen. Wenn es mir an einem Platz in dieser Showbranche nicht mehr gefallen hat, weil es mir zu eng wurde, bin ich gegangen, und zwar ohne Rücksicht auf einen möglichen Karriereschaden oder auf finanzielle Verluste. Das war mir egal. Diese Freiheit war mir wichtiger als alles andere. Ich wollte mich nicht in ein Korsett zwängen lassen. Für mich war klar: Wenn das der Preis ist, den ich zahlen muss, dann verzichte ich dankend. Ich habe keine Kompromisse gemacht, sondern bin gegangen und habe mich zeitweise lieber mit Auftritten auf Schützenfesten und in Diskotheken über Wasser gehalten. Ansonsten hat mir ein gesundes Gottvertrauen geholfen.

"Der Jakobsweg hat alles verändert"

Wann ist denn dein starkes Interesse an allem Religiösen erwacht? Das war bestimmt nicht als Messdiener.
Nein, das war ich nur ganz kurz. Weil ich Faxen machte und mit den Glöckchen an der falschen Stelle gebimmelt habe, wurde ich im gegenseitigen Einvernehmen rausgeschmissen. Ich habe gelesen, dass ein berühmter amerikanischer und natürlich seriöser Wissenschaftler herausgefunden haben soll, dass Religiosität eine Begabung ist, so ähnlich wie Musikalität. Vielleicht bin ich religiös begabt? Möglich wäre es. Also dass es mir gewissermaßen in die Wiege gelegt wurde, dieses Urvertrauen, was nicht konstant da ist, das mich aber durch mein Leben begleitet ...

... und das dazu führte, dass du den Jakobsweg gegangen bist. Das Buch über diese Pilgerreise hat sich 4,8 Millionen Mal verkauft, es hat dich materiell reich gemacht. Aber was ist spirituell von diesem Weg für dich geblieben?


Er hat alles verändert. Ich hatte nach einigen Hundert Pilger-Kilometern das starke Gefühl, physisch und psychisch leergelaufen zu sein. Und da war nun die Möglichkeit, dass diese Leere mit etwas Neuem gefüllt werden konnte, mit etwas, das ich bis dahin nicht gekannt hatte. Und ich habe das für mich als, ja, einen mystischen Vorgang empfunden, dass diese Leere aufgefüllt werden kann mit etwas Neuem. Etwas Erfrischendem.

Was war dieses Neue?


Ich würde es Gott oder das Göttliche nennen. Im Nachhinein denke ich aber, dass das jeden Tag im Leben eines jeden Menschen passiert, ohne dass man sich dessen bewusst ist. Das kann ein befreiendes Lachen sein, das kann aber auch der Moment sein, in dem man, ohne darauf vorbereitet zu sein, zu Tränen gerührt ist. Auch das ist ein Moment, der einen erfüllt. Ich habe das für mich als etwas Göttliches definiert.

Ist das so ein Moment, in dem man glaubt zu verstehen, wer man eigentlich ist?


Genau das. Für mich war das so ein Moment, wo ich das Gefühl hatte, jetzt gehe ich auch mal barmherzig mit mir selbst um. Ich konnte mir Dinge vergeben, verzeihen, und das hat sich sehr schön angefühlt. Das hat sich ein bisschen verloren im Lauf der Jahre, aber gerade bin ich dabei, genau das wieder zurückzugewinnen. Ich bin mit mir im Gleichgewicht.

Das war vermutlich nicht immer so.
Sicher nicht. Aber ich habe mich nie wirklich unwohl mit mir gefühlt. Ich war auch als Kind gerne ich. Allen schlimmen Erfahrungen zum Trotz. In der Pubertät gab es eine Phase, die war sehr schwierig, sehr beladen von der Trauer über den Verlust meiner Mutter. Sosehr ich meine Großeltern geliebt und verehrt habe – da hat mir oft das Gespräch mit der Mutter gefehlt. Das kann ich nicht verhehlen. Aber dann, ab dem 20. Lebensjahr, kam ich ganz gut mit mir selbst klar. Natürlich hatte ich auch gelernt, zu verdrängen. Erst der Jakobsweg hat mir ermöglicht, das nicht mehr zu tun.

Hat der Jakobsweg eine Langzeitwirkung für dich gehabt, die du beschreiben kannst?


Eine sehr starke Wirkung sogar, weil es zum Beispiel Horst Schlämmer ohne den Jakobsweg nicht gäbe. Die Figur stand plötzlich sehr klar und unmissverständlich vor meinem geistigen Auge, sodass ich sie auf die Bühne bringen konnte. Und das ist klar ein Ergebnis des Jakobswegs, den ich drei Jahre zuvor gelaufen war. Da hatte ich das Ziel erreicht, nach Santiago de Compostela zu gelangen – und jetzt wollte ich genauso zielstrebig diese Figur auf die Bühne bringen. Komischer Vergleich, aber so war es. Ich hatte vorher auch Figuren, die ich geliebt habe, die ich gerne gespielt habe, die beim Publikum gut ankamen. Aber der Schlämmer war der absolute Volltreffer. Sowohl für mich, der ich ihn liebend gerne gespielt habe, als offensichtlich auch für das Publikum. Der Horst Schlämmer ist eine Figur, die auf den Punkt kommt. Die ist zielgerichtet, die lässt keine Missverständnisse aufkommen, die wabert nicht im Ungefähren herum. Das ist ein unmittelbares Resultat des Jakobswegs.

Wenn du deine Figuren spielst, dann spielst du auch ein bisschen den lieben Gott, oder?


(Lacht) Da spiele ich in gewisser Weise den lieben Gott, ja. Denn ich bin es, der die Figuren handeln, sagen und tun lässt. In manchen Momenten breche ich selbst durch. Dann denke ich mir, oh, nein, nein, wie unprofessionell von mir. Das kann aber sehr komisch sein, das können sogar die komischsten Momente sein, in denen die Figur mal bricht. Aber, wie gesagt, eigentlich darf das nicht passieren.

Wie ist es mit den Frauenrollen? Uschi Blum, Evje van Dampen, Gisela und jetzt demnächst in deiner Geburtstagssendung im ZDF eine Boulevardjournalistin?


Kein großer Unterschied zu den Männerrollen. Allerdings bilde ich mir ein, dass ich weiß, wie eine Frau so tickt. Das habe ich mir durch jahrelange Beobachtung draufgeschafft. Nach außen gebe ich etwas wieder, von dem ich glaube, dass es relativ authentisch und dadurch besonders komisch ist. Ob das stimmt? Es scheint zu stimmen, sonst wäre es für die Leute nicht so lustig.

Du hast dir nie gewünscht, eine Frau zu sein?


Es wird gerne angenommen oder unterstellt, dass, wenn sich ein Mann beruflich als Frau verkleidet, er selbst gern eine Frau wäre. Das ist ein Trugschluss. Ich will, Gott behüte, auch nicht Horst Schlämmer sein. Ich spiele ihn.

Gero von Boehm ...

... lernte Hape Kerkeling vor acht Jahren bei einem Interview in einem Kloster im Ruhrgebiet kennen - Kerkeling hatte diesen Ort vorgeschlagen. Dessen Reise auf dem Jakobsweg lag da schon ein paar Jahre zurück.
Foto: Juri Reetz/DPA

Erschwerend kommt hinzu, dass ich als Frau manchmal erschreckend glaubwürdig aussehe. Ich denke dann, um Himmels willen, das sieht nicht aus wie Travestie, das sieht total echt aus. Aber das liegt an der Kunstfertigkeit der jeweiligen Maskenbildner. Nein, eine Frau wollte ich nie sein.

Warum nicht?


Ich fühl mich pudelwohl. Ein Mann ist übrigens in dieser Welt von Geburt an freier als eine Frau. Das ändert sich hoffentlich eines nicht so fernen Tages.

Gibt es so etwas wie eine Erkenntnis aus den 50 Jahren, die jetzt hinter dir liegen, eine Formel, die du für dich gefunden hast?


Vielleicht dies: Das Herz hat immer recht. Das ist meine schnulzigste Lieblingserkenntnis. Was man im Herzen fühlt, stimmt. Meistens. Es bringt einen auf den richtigen Weg. Wenn man dem Impuls des Herzens folgt, ist das nach meiner Erfahrung nie falsch.

Kommt Lachen auch aus dem Herzen?


Sagen wir mal, das Herz lacht mit, aber ich bin mir nicht sicher, ob das Lachen aus dem Herzen kommt. Das kommt aus tieferen Regionen. Aus Regionen, die uns vermutlich mit diesem grollenden Planeten verbinden. Aber das Herz sollte mitlachen und sich berühren lassen, sonst ist es nicht befreiend.

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Interview: Gero von Boehm

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