Winnenden-Urteil Respekt, Herr Richter!

Der Prozess gegen den Vater des Amokläufers setzt Maßstäbe für den Umgang mit Opfern. Selten hat sich ein Gericht so sehr um einen respektvollen Umgang bemüht.

Solche Momente sind Richtern ein Graus: Vor ihnen sitzt ein Vater, aufgewühlt, er hat sein Kind verloren, es wurde von der Mutter getötet. Der Vater hat seine Aussage gemacht, jetzt will er dem Gericht noch etwas mitteilen. Er zieht ein Gedicht hervor, das er für seine kleine Tochter geschrieben hat. Er hebt an, das Gericht soll wissen, was für ein Mensch seine Tochter war. Doch der Richter stoppt ihn - so etwas gehört nicht in den Gerichtssaal. Trauer, Zorn, Wut, Verlust, Hoffnungslosigkeit - große Emotionen lassen sich nicht einfach ausblenden aus Strafprozessen. Doch wie kann ein Gericht umgehen mit Opfern und ihren Familien, die alles verloren haben? Betont nüchtern, so lautet die Devise unter Juristen. "Wenn Chirurgen operieren, haben die Angehörigen zu schweigen", so ein Bonmot unter Juristen.

Auch vor dem Amokprozess von Winnenden gab es die Angst vor unkontrollierbaren Gefühlsausbrüchen oder gar, dass das Verfahren entgleitet. Angesichts des "monströsen Ausmaßes" des Amoklaufs wäre das kein Wunder gewesen. 15 Opferfamilien saßen dem angeklagten Vater Jörg K. gegenüber. Ein Spießrutenlaufen? Anfeindungen, Beschimpfungen? Nichts dergleichen. Symptomatisch war das heutige Urteil. Danach war Ruhe, es folgten weder Jubel noch Buhrufe. "Wir wollen verstehen, warum sich die Familie mitschuldig gemacht hat", sagte einer der Väter vor wenigen Tagen. Zurückhaltend und besonnen seien die meisten Familien aufgetreten, lobte der Vorsitzende Richter Reiner Skujat heute. Als einzige Ausnahme gilt das weitere Umfeld eines Opfers, das hinter Morddrohungen gegen Jörg K. stecken soll. Diese Verwandten "die meinen, dass sie die Dinge selbst in die Hand nehmen sollten," wurden von Skujat ausdrücklich verwarnt.

Vater übernahm Verantwortung

Maßgeblich für die Prozessatmosphäre war der Vorsitzende Richter selbst. Skujat mühte sich, die angespannte Situation vom ersten Prozesstag an zu entschärfen. Er erklärte geduldig immer wieder die Prozessschritte, hörte zu, hatte einen Blick für die besondere Verletzbarkeit der Angehörigen. So erfuhren beispielsweise die Eltern von Selina Marx erst im Gerichtssaal, wie ihre Tochter Selina aufgefunden worden war - zusammengesunken über ihrem Tisch, den Stift noch in der Hand.

Es waren aber nicht nur solche Details, die den Eltern zusetzten, sondern vor allem die offensichtliche Mühe von Jörg K., Verantwortung für eigene Fehler zu übernehmen. Es ging eben in diesem Prozess nicht nur um die juristische Aufarbeitung, sondern um eine Tragödie, die neue Tragödien produziert - auch in der Familie von Tim K.

Die lebe seit dem 11. März 2009 sozial isoliert, traue sich nicht mehr in ihr Heimatdorf, habe mindestens vier Umzüge erlebt, so Richter Skujat heute in seiner Urteilsbegründung. Jörg K. sei suizidgefährdet, Tochter Jasmin sei gezwungen, mit falscher Legende zu leben. Die zweite Ebene der Auseinandersetzung zwischen Opferfamilien und Täterfamilie - die Frage, was genau in dieser Familie schief gelaufen war - blieb dem Gericht nicht verborgen. Doch "über ein Versagen bei der Erziehung des Sohnes hat die Kammer nicht zu urteilen".

Bemühen um menschliche Annäherung

Richter Skujat bemühte sich dennoch ganz offensichtlich um eine menschliche Annäherung zwischen den Familien, obwohl die nicht die Aufgabe des Gerichtes war. "Eine Annäherung hätte stattfinden können auch ohne Aufgabe der juristischen Rechtsposition," betonte er heute. Diese Chance habe der Vater des Amokläufers, beraten durch seine Anwälte, verpasst. "Mir als Vorsitzendem waren leider die Hände gebunden, in irgendeiner Form zu vermitteln. Mit einem schweigenden Angeklagten kann auch nicht vermittelnd gesprochen werden."

Immerhin: Mit diesem Verfahren hat die Strafkammer bewiesen, dass ein Gericht trotz seines "engen Korsetts" Freiräume hat, um einen Prozess menschlich zu gestalten. Zum Schluss wünschte der Richter den Familien "Kraft, um die Schicksalsschläge zu ertragen". Den Familien der Opfer, aber auch der von Jörg K.

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