Auf seinen Besprechungstisch mit den chromblitzenden Beinen und der edlen Milchglasscheibe ist Rainer Kaduk stolz. Den hat er - "Uns fehlen ja die Mittel!" - noch zu D-Mark-Zeiten bei Ebay ersteigert. Natürlich verfügt Kaduk auch über eine E-Mail-Adresse und nutzt das Internet für Recherchen. So viel Modernität ist nicht selbstverständlich für einen Beamten, der kurz vor der Pensionsgrenze steht und in einem kleinen Örtchen in der Eifel lebt: Rainer Kaduk, 64, ist Schulleiter am städtischen Gymnasium in Schleiden.
Aber was bitte ist ein Chat? Und wie kann es dort zu sexuellem Missbrauch kommen? Kaduk hat davon noch nichts gehört. "Meine erste Reaktion war: Dat jibbet bei uns nich", sagt auch Schleidens Bürgermeister Ralf Hergarten, der an diesem Abend die Eröffnungsrede in der Schulaula hält. Als Referentin geladen ist Beate Schöning, Gründerin des Vereins "Netkids" und Spezialistin für den Tatort Chatraum. Sie kennt die Ahnungslosigkeit, die viele Menschen zunächst einmal glauben lässt, es würde hier um ein Orchideenthema gehen. Und sie nutzt diese Ahnungslosigkeit als Steilvorlage für Ihren Vortrag.
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Auch Frauen sind Täter
Folie für Folie wirft Schöning über einen Beamer an die Stirnwand der Aula. Die Informationen, die nun unübersehbar im Raum stehen, sind beklemmend. 70 Prozent der Eltern wissen nicht, was ihre Kinder im Internet tun. Andererseits nutzen 97 Prozent der Menschen, die sich an Kindern vergreifen wollen, das Internet für Annäherungsversuche. 50 bis 70 Prozent der Chatter drängen das Gespräch in eine sexuelle Richtung. "Darunter sind auch erwachsene Frauen, das muss man akzeptieren", sagt Schöning. So geht das immer weiter - von Zahl zu Zahl, von Fakt zu Fakt und von Studienergebnis zu Studienergebnis. Am Ende weiß jeder, dass er eigentlich viel zu wenig weiß.
Dann erzählt Schöning von "ihren" Fällen. Seit fünf Jahren beschäftigt sie sich mit dem Thema, immer wieder gibt sie sich in Chats als minderjähriges Mädchen aus und lässt sich anbaggern. Mit insgesamt 21 Männern hat sie persönliche Treffen vereinbart, um sie in dieser Situation bloßzustellen - viel mehr lässt sich gegen pädophile Chatter nicht unternehmen, denn die sexuelle Annäherung übers Internet ist in Deutschland nicht strafbar. Unter den Männern, denen sie begegnete, war auch einer, der auf ihre Vorhaltungen einfach mit "no risk, no fun" geantwortet habe, erzählt Schöning. Wie sich herausstellte, führte dieser Mann beruflich ein Kinderheim in Kassel. Weil die Aktion von einem Fernsehteam mitgefilmt wurde, verlor er später seinen Job.
Fragen nach der Unterwäsche
Wie leicht solche Treffen zustande kommen können, führt Schöning während ihres Vortrages live vor. Sie loggt sich in einen Chat auf www.bravo.de ein, gibt sich das Pseudonym "louisa12w" und schreibt ein paar Worte im Stil eines Kindes. Innerhalb von wenigen Minuten nähern sich die Chatter wie die Fliegen und fragen wie alt sie sei, welche Hobbies sie habe und wo sie wohne. Nach diesem Vorgeplänkel kommt "badboy_666" zur Sache. Zunächst will er wissen, ob "louisa12w" Unterwäsche trägt. Dann fordert er sie auf, sich auszuziehen und sich die Brustwarzen zu lecken. "Ich massiere deinen Arsch und stecke einen Finger in deine Muschi", schreibt er. Diese Zeilen flimmern über die Projektionsfläche in der Schleidener Aula und das Publikum quält sich. Allein die ebenso plötzliche wie brutale Intimität ist schwer zu ertragen. Wirklich schockierend aber wirkt der Gedanke, dass die eigene Tochter auch so angeprochen werden könnte und sich irgendwann mit einem "Bad Boy" aus dem Chat trifft.
Seit dem Jahr 2000 werden Missbrauchsfälle, die über Internetkontakte zustande kamen, statistisch registriert. Sieben Fälle sind es bereits und Schöning ist sich sicher, dass die Zahl steigen wird: "Nichts ist einfacher, als das Internet zu nutzen, um an das 'interessante Material’, das 'Frischfleisch’, wie es in der Szene genannt wird, heranzukommen." Kein Chat sei vor Pädophilen sicher, das Problembewusstsein sowohl bei Eltern als auch Kindern noch völlig unterentwickelt.
Eltern müssen wissen, was ihre Kidner tun
Was also tun? Beate Schöning schlägt radikale Maßnahmen vor. "Für mich hat kein Kind unter zwölf Jahren etwas im Internet verloren", sagt sie. Danach sollten Eltern die Internetkontakte ihrer Kinder kontrollieren - sie müssten also deren Passwörter kennen und sich im Zweifelsfall auch selbst in die Chats einloggen können. Völlig tabu sei es, dass der Nachwuchs irgendwelche Informationen im Internet hinterlasse, zum Beispiel Name, Adresse, Handynummer oder gar Bilder. Treffen mit "Chatfreunden" könnten - wenn überhaupt - nur in Begleitung der Eltern stattfinden.
Die Schleidener reagieren verunsichert. Schulleiter Rainer Kaduk ist stolz darauf, dass er 23 internetfähige Arbeitsplätze in seiner Schule hat und Informatik als Abiturfach anbieten kann. Bürgermeister Ralf Hergarten war vor seiner politischen Karriere Unternehmensberater und hat Firmen erklärt, wie sie das Internet geschäftlich nutzen können. Viele Eltern im Publikum waren bislang im guten Glauben, ihre Kinder müssten sich im Netz auskennen, um fit für die Zukunft zu sein. Und nun ist der Gedanke an die schöne neue Welt plötzlich mit Pädophilie besudelt. "Ich will das Medium Internet nicht verdammen", sagt Beate Schöning. "Aber man sollte ruhig mal kritisch überlegen, wofür man es überhaupt braucht."
Das letzte Wort an diesem Abend hat Sigrid Arabin-Müller, Kriminalbeamtin im Kreis Euskirchen und Vorstand von "Mumm e.V.", eines Vereins gegen den sexuellen Missbrauch von Jungen und Mädchen, der diesen Vortragsabend organisiert hat. "Jede Woche gehen bei uns ein bis zwei Anzeigen wegen Missbrauchs ein", sagt sie. Eine Vergewaltigung nach einem Chatkontakt war auch schon darunter.