Der Urknall ist genau datiert. Am 17. April 2008 macht es zum ersten Mal bum. Eine Dame aus dem Rheinland meldet sich bei Philips. Ihre Küche sähe wüst aus, die Kaffeemaschine wüster. Das Gerät sei wohl geplatzt.
Matthias Pyroth denkt sich nicht viel dabei. In der Abteilung Consumer Care, die er leitet, erlebt man ja so einiges. Allein dieser Typ damals, der wegen seines angeblich explodierten Toasters anrief. Kein Wunder, wenn man im Schrank darüber die CO2-Patronen für den Wassersprudler lagert und eine in den Toaster kullern lässt! Als Anfang Juni aber die nächste Kaffeemaschine in die Luft geht, wird Pyroth hellhörig.
Schon wieder eine Senseo, dieses devot nach vorn gebeugte Maschinchen, das nach Einlegen eines pulvergefüllten Filterkissens exakt eine Tasse Kaffee ausspeit. Dieses zwischen 50 bis 150 Euro teure Gerät, von dem Philips in den vergangenen acht Jahren mehr als 25 Millionen Stück verkauft hat - der erfolgreichste Kaffeeautomat seit Erfindung des Pulverkaffees.
"Jeder gemeldete Schadensfall wird bei Philips ernst genommen und untersucht", holt Matthias Pyroth einen Satz aus dem Depot des Director Consumer Care.
Rekonstruktion des Urknalls
Der 42-Jährige, seit 23 Jahren bei Philips, lässt den Betroffenen ein neues Gerät bringen und die verbleibenden Teile des alten einsammeln. Inzwischen ist die Konzernzentrale in Amsterdam aufmerksam geworden. Ende September wird Andrea Ragnetti, Chef der Consumer-Lifestyle-Sparte, informiert. Ein holländisches Labor versucht, den Urknall zu rekonstruieren.
Was in den Niederlanden im Dezember herausgefunden wird, alarmiert die Manager: Wer seine Senseo aus bestimmten Baureihen nicht regelmäßig entkalkt - also die überwiegende Mehrzahl der Käufer -, riskiert, dass der Boiler des Geräts platzt. Dabei können nicht nur Gehäuseteile durch die Küche fliegen, sondern theoretisch auch Stromkabel freigelegt werden.
Auch wenn Philips die Wahrscheinlichkeit des Platzens bei weniger als drei Geräten in einer Million sieht, auch wenn es nicht um verseuchtes Milchpulver oder Holzstücke im Babygläschen geht: Das ist Alarmstufe Rot. Sofort erfährt der Vorstand von dem Problem. Er lässt sich die technische Risikobewertung der Ingenieure vorlegen, hört sich die moralische Risikobewertung des Marketings an und beschließt Anfang Januar: Wir prüfen den Rückruf!
Sorge ums Image
Rückruf - das Wort, das jeden Markenhersteller in Panik versetzt. Der Aufwand! Die Kosten! Die Marke! Ein Konzern wie Philips verkauft schließlich nicht allein Rasierapparate und Fernseher, der Name soll für Annehmlichkeit und Wohlbefinden stehen. Da genügen ein paar Berichte über Küchen, die mit Plastiksplittern und Kaffeepulver übersät sind - und das Image wäre beschädigt. "Natürlich wäre es billiger gewesen, wenn wir jedem leicht betroffenen Senseo-Käufer 1000 Euro und jedem schwerer betroffenen 10.000 Euro in die Hand gedrückt hätten", sagt Pyroth. Klar, dass diese Rechnung nie jemand ernsthaft aufmacht.
Als die Zahl der Maschinen zusammenaddiert ist, deren Boiler theoretisch platzen könnte, müssen Matthias Pyroth und seine Kollegen in Amsterdam kräftig schlucken: Die fehlerhafte Konstruktion wurde in sieben Millionen Automaten verbaut. Hintereinandergelegt, reichten die Geräte von der Philips-Zentrale in Amsterdam bis an die Stadtgrenze Moskaus. Auch wenn bei einem Rückruf gewöhnlich nur 30 bis 40 Prozent der Geräte eingeschickt werden: Es bleibt immer noch eine kaum vorstellbare Menge.
Verschwiegenheit ist oberstes Gebot
Bei Philips fragt man sich: Wie organisiert man die größte Rückrufaktion, von der die Elektronikbranche je gehört hat?
Mit Verschwiegenheit. "Das Schlimmste wäre, öffentlich zugeben zu müssen, wir haben da ein Problem, aber wir wissen noch nicht genau, wie wir es lösen", sagt Pyroth.
Ganz für sich allein darf der Konzern das Geheimnis nicht behalten. Nach dem EU-weit gültigen Produktsicherheitsgesetz müssen bei gesundheitsgefährdenden Produktionsfehlern die Behörden informiert werden - selbst wenn die Wahrscheinlichkeit eines Schadensfalls eher gering ist.
Im Februar beichtet Philips dem Verbraucherschutzamt. Der Fall wird geprüft - und als nicht dringend eingestuft. "Unsere größte Sorge war, dass die sagen: Das Problem ist für uns so schwerwiegend, wir müssen das über Rapex, das Schnellwarnsystem der EU, veröffentlichen", erinnert sich Pyroth. Millionen Senseo-Käufer hätten sofort wissen wollen: Was jetzt?
Die Zeit drängt
Um rauszufinden, was Philips jetzt macht, wird eine Taskforce gegründet. Die Zeit drängt. Am 14. April präsentiert der Konzern Quartalszahlen. Die Kosten für eine Rückrufaktion dieser Größenordnung werden sich dabei nicht verschweigen lassen. Philips will 30 Mio. Euro zurückstellen.
Ende Februar schließen sich 40 Mitarbeiter aus verschiedenen Ländern zwei Tage lang in Amsterdam ein. Matthias Pyroth ist mit zehn Leuten dabei. An zwei Tagen sollen Antworten gefunden werden. Wie kommen die Geräte in die Werkstatt? Wer bringt sie dahin? Wer kann so viele Geräte reparieren? Und natürlich: Was und wie soll überhaupt repariert werden?
Zwei Wochen später, Mitte März, erfährt Volker Baumeister, dass er Teil der Antwort ist. Seit der Wende repariert der 54-Jährige, der aussieht wie Peter Harry Carstensen in Sympathisch, als selbstständiger Dienstleister für Philips. Im Lager stapeln sich Kartons mit Staubsaugern, DVD-Player und LED-Fernseher bis unters Dach. 81 Leute arbeiten in Bentwisch, ein paar Kilometer hinter Rostock. Als Philips anruft, weiß Baumeister, dass sich hier bald auch Senseo-Maschinen stapeln werden. Sehr viele sogar. "Die fragten, ob wir uns vorstellen könnten, Reparaturwerkstatt für die Rückrufaktion zu werden. Eine von vier in Europa, die einzige in Deutschland." Baumeister brauchte keine Bedenkzeit. "Philips ist unser größter Kunde. Da kann man nicht Nein sagen."
Rückrufanzeigen in ganz Europa
Sechs Wochen später, am 4. Mai um 15 Uhr, springt Baumeister von seinem Schreibtisch auf, stürzt aus dem ebenerdigen Eckbüro mit bestem Blick auf die Einfahrt und rennt durchs Lager, zur einzigen Rampe. Pünktlich wie geplant ist der erste DHL-Truck, beladen mit ein paar Hundert prinzipiell platzfähigen Senseo-Maschinen, auf den Hof gerollt. Es geht los.
Der Countdown läuft seit dem 15. April. Am Tag nach der Vorstellung der Quartalszahlen hatte Philips Rückrufanzeigen in ganz Europa geschaltet. Weit mehr Senseo-Besitzer erfahren über Zeitungsberichte von dem Fehler. Internetkäufer werden von ihrem Händler benachrichtigt.
Jetzt, Anfang Mai, muss sich zeigen, ob alle Zahnrädchen laufen, die Philips in den vergangenen Monaten zu einer großen Maschinerie zusammengefügt hat. Ob die Software funktioniert, die jedem Registrierten an Tag X einen Leerkarton (mit einem Päckchen Kaffee als Entschuldigung) zum Einschicken seiner Senseo zustellt, damit an Tag Y nicht zu viele, aber auch nicht zu wenige Geräte in der Werkstatt ankommen. Ob die Serverkapazitäten von www.reparatursenseo.de dem Ansturm standhalten und die 800 Callcenter-Agenten genügen werden. Ob DHL das Volumen von ein paar Hunderttausend Senseo-Kartons verkraften wird.
Demontage: Gehäuse aufhebeln, Boiler raus
Jetzt muss auch die kleinere Baumeister-Maschine anspringen, die der Rundfunk- und Fernsehtechniker selbst ausgetüftelt hat und die nahtlos an die Philips-Maschinerie angedockt werden soll. Von den 40 Leuten, die Baumeister über eine Zeitarbeitsfirma angeheuert hat, steht die Hälfte an diesem Montagnachmittag hinter ihm. Baumeister hat im Zweischichtsystem geplant, sonst schafft er das Pensum nicht. Die erste Spätschicht beginnt.
Zunächst der Eingangstest: Funktioniert das Gerät überhaupt noch? Dann Demontage: Gehäuse aufhebeln, Boiler raus. Montage: neuer Boiler rein, Gehäuse zu. Spannungstest: Sind alle Stromkabel noch ausreichend isoliert. Funktionskontrolle.
Schließlich säubern, zurück in den Karton, auf den Rollwagen. Dieses Uhrwerk aus eingeübten Handgriffen tickt in einem 30-Quadratmeter-Raum auf ein paar aneinandergereihten Tischen. Das zugehörige Organigramm passt auf eine DIN-A5-Seite.
45 Sekunden pro Gerät
Es ist nicht schrecklich kompliziert, was hier passiert. Es muss nur schnell gehen. Wenn Volker Baumeister das nicht schon gewusst hätte, die beiden Philips-Männer, die in der zweiten Woche nach Bentwisch kamen, hätten es ihm klargemacht. "Ganz dezent waren die mit ihren Stoppuhren. Meine Leute haben das kaum gemerkt", sagt Baumeister. "Gute Männer waren das. Hier und da haben die tatsächlich noch ein paar Sekunden rausgeholt." Zu den besten Zeiten brauchen Baumeisters Leute keine 45 Sekunden pro Gerät. Dann ist nach 16 Stunden jede der 1300 bis 1400 Senseos repariert, die der DHL-Truck in den nächsten zwei Monaten täglich in Bentwisch ablädt.
Rückrufaktionen sind ewig gültig
Noch läuft die Aktion. Weit über eine Million Geräte sind bislang repariert worden. Der größte Ansturm aber ist vorüber. Die meisten Kunden mussten ein paar Wochen auf ihren Leerkarton warten, aber die Reparatur hätte nie länger als die versprochenen zwölf Tage gedauert, sagt Pyroth stolz.
Im Servicecenter Baumeister in Bentwisch ist die Linie abgebaut. Bald zieht seine EDV-Abteilung in den Raum. Das Rinnsal der Nachzügler, die ihr Gerät erst jetzt registriert haben, tröpfelt im großen Philips-Werk in Drachten bei Groningen ein.
Bei Philips geben sich alle zufrieden. Sogar Andrea Ragnetti, Chef der Sparte Consumer Lifestyle. "Wir sind stolz, dass alles gut geklappt hat", sagt er. Weder Image noch Verkaufszahlen hätten Schaden genommen "Auch wenn es eine kostspielige Lektion war." Die zurückgestellten 30 Mio. Euro haben nicht gereicht. Bislang kamen 17 Mio. Euro dazu. Es könnte noch mehr werden. Rückrufaktionen sind im Prinzip ewig gültig.