Chemikalien durchdringen unseren Alltag. 100.000 verschiedene finden sich Schätzungen zufolge in Alltagsprodukten. Die meisten sind ungiftig, doch einige bergen auch Risiken: Sie reizen die Haut oder können Allergien auslösen, fördern Krebs, schädigen die Fruchtbarkeit oder wirken auf unser Erbgut. In den vergangenen Jahrzehnten wurden immer wieder Stoffe verboten, weil sie verheerende Wirkung zeigten. Etwa die polychlorierten Biphenyle, um nur ein Beispiel zu nennen: Die für Tiere und Menschen giftigen Weichmacher reicherten sich so stark in der Umwelt an, dass sie auch Jahrzehnte nach dem Produktionsende noch weltweit nachweisbar sind.
Damit derart riskante Substanzen gar nicht erst auf den Markt kommen, wurde 1981 in Europa, ebenso in den USA, toxikologische Tests für Neuchemikalien Pflicht. Nur: Rund 97 Prozent der heute eingesetzten Chemikalien waren damals bereits auf dem Markt und bislang hat diese niemand systematisch geprüft. Tatsächlich wissen wir über schätzungsweise 86 Prozent aller Substanzen zu wenig - "toxikologische Ignoranz" nennen das die Experten.
Kosten: Bis zu zehn Milliarden Euro
Das wird die EU ändern. "Reach" heißt das Mammutprojekt, in dem Altchemikalien durchgetestet werden. "Reach" steht für "Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals". Die Kosten werden auf bis zu zehn Milliarden Euro in den kommenden zehn Jahren geschätzt - und von der chemischen Industrie getragen. Chemikalien könnten daher rund 0,5 Prozent teurer werden: ein akzeptabler Preis für mehr Sicherheit. Reach ist ein längst notwendiger Schritt, der den Verbrauchern nutzt. Allerdings finden sich auch Schwachpunkte.
Wie viele Tests durchgeführt werden, hängt im Wesentlichen davon ab, welche Mengen einer Substanz jährlich hergestellt werden. "Absolut harmlose Chemikalien werden extrem getestet. Gleichzeitig gibt es bestimmte Substanzen, die auch in geringen Mengen riskant sind, aber weniger geprüft werden", kritisiert Toxikologe Thomas Hartung, der an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore (USA) und der Uni Konstanz lehrt. Liegt die Produktion über 1000 Tonnen pro Jahr, muss durch zahlreiche Tierversuche unter anderem geklärt werden, ob die Substanz krebserregend ist oder die Fruchtbarkeit senkt. Ist die Jahresproduktion geringer als eine Tonne, muss gar nichts geprüft werden. Die Regelung gilt auch für Neuchemikalien, die davor ab einer Produktionsmenge von 100 Kilo pro Jahr ersten Tests unterzogen wurden. "Das Gesetz senkt die Sicherheit bei den Neuchemikalien drastisch, weil es sich auf die Altlasten konzentriert", bemängelt Hartung.
Verbraucher können Information einfordern
Zu den Altlasten zählen auf jeden Fall die momentan rund 30 Chemikalien, die auf der "Kandidatenliste der besonders besorgniserregenden Stoffe" stehen. Es sind Stoffe, die Krebs auslösen, das Erbgut verändern und die Fortpflanzung gefährden sowie Substanzen, die sich in der Umwelt anreichern. Bei Stoffen, bei denen befürchtet wird, dass sie das Hormonsystem von Menschen und Tieren stören, muss im Einzelfall geklärt werden, ob sie auf der Liste landen. "Eigentlich müssten um die 2500 Chemikalien auf der Liste stehen", sagt Patricia Cameron, Chemikalien-Expertin beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). Bisphenol A, ein Ausgangsstoff für verschiedene Kunststoffe, findet sich beispielsweise - noch - nicht darauf, obwohl Organisationen wie der BUND seit Jahren ein Verbot der Chemikalie fordern.
Substanzen auf der Liste können im Rahmen von Reach nach einer Frist verboten und nur noch mit Sondergenehmigung auf den Markt gebracht werden. Vor allem bei Umweltgiften, die sich in der Natur ansammeln und überdauern, erwarten Experten Verbote: Denn bei diesen Stoffen gibt es keine "sichere Dosis". In den kommenden Monaten und Jahren wird die Kandidatenliste wachsen - aber auch "ein Kampf um jeden Stoff" zwischen Industrie und Verbraucherschutz entbrennen, wie Cameron vermutet. Sie geht jedoch davon aus, dass für diverse Chemikalien das Aus kommt. "Reach ist ein großer Durchbruch", sagt sie.
Verbraucher profitieren schon jetzt davon. Wer ein Produkt herstellt, das einen der Kandidatenlisten-Stoffe in einer Konzentration von über 0,1 Prozent enthält, muss gewerbliche Kunden darüber informieren. Und: Verbraucher haben jetzt das Recht, bei Unternehmen anzufragen, ob eine der Substanzen in einem Produkt steckt. (Hier finden Sie einen Musterbrief.) Darauf muss der Hersteller binnen 45 Tagen antworten. Wer sich also sorgt, ob zum Beispiel der Weichmacher Diisobutylphthalat, Dibutylphthalat oder Benzylbutylphthalat in der Tapete, einem Kinderspielzeug aus Plastik oder dem Bodenbelag aus PVC befindet, kann die Information darüber einfordern und sich unter Umständen für ein Konkurrenzprodukt ohne den bedenklichen Zusatz entscheiden. Wie stark Verbraucher dieses neue Recht in Zukunft nutzen - und wie stark sich die Industrie dadurch beeinflussen lässt, wird sich hoffentlich bald zeigen.